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    Gegen die Wand
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Gegen die Wand
    Von Carsten Baumgardt

    Der Goldene Bär der Berlinale für eine deutsche Produktion: Das gab es zuletzt für Volker Schlöndorffs „Die Blechtrommel“. Ein Viertel Jahrhundert später wurde diese Ehre dem deutsch-türkischen Filmemacher Fatih Akin zuteil, der die Jury mit seinem kraftvoll-radikalen Liebesdrama „Gegen die Wand“ überzeugte. Ihm gelang mit „Gegen die Wand“ ein beeindruckendes Stück Kino, das die Beachtung mehr als verdient hat.

    „Sie können Ihrem Leben auch ein Ende setzen, ohne sich umzubringen“, flüstert ein Arzt. Und Cahit (Birol Ünel), 40, der wegen eines Selbstmordversuchs in der geschlossenen Abteilung des Krankenhauses in Hamburg-Ochsenzoll liegt, weiß genau, was er damit meint: Er muss ein neues Leben beginnen. Auch wenn die Wut, die immer noch tief in seiner Seele sitzt, weiter danach schreit, mit Alkohol und Drogen betäubt zu werden. Sibel (Sibel Kekilli) – 20, schön, und wie Cahit türkischer Herkunft, aber in Hamburg aufgewachsen – liebt das Leben zu sehr, um eine „anständige Muslimin“ zu sein. Um aus dem Gefängnis auszubrechen, das ihre streng gläubige und traditionsbewusste Familie um sie herum aufbaut, versucht sie, sich umzubringen. Doch sie überlebt. Ihre einzige Chance, der Familie zu entfliehen, sieht Sibel darin, Cahit zu bitten, sie zu heiraten. Nach kurzem Zögern stimmt er zu. Vielleicht weil er weiß, dass er dadurch auch sich selbst retten kann. Vielleicht aber auch nur, um zumindest einmal in seinem Leben etwas Sinnvolles zu tun. So teilen sich die beiden eine Wohnung, doch kaum mehr. Während sich Sibel voll dem Leben hingibt („Ich will ficken, und zwar nicht einen, sondern viele“), vegetiert Cahit zunächst weiter im Sumpf aus Alkohol und Drogen vor sich hin. Ab und zu geht er mit seiner Bekannten Maren (Catrin Striebeck) ins Bett. Doch nach einiger Zeit merkt er, dass er wesentlich mehr für Sibel empfindet, als ihre Scheinehe vermuten lässt. Das führt zu Problemen, denn plötzlich ist Cahit eifersüchtig auf Sibels Bettgenossen.

    Auch wenn der Goldene Bär für „Gegen die Wand“ überraschend war, ist der Mut der Jury dennoch zu loben. Der in Hamburg aufgewachsene türkisch-stämmige Fatih Akin („Kurz und schmerzlos“, „Im Juli“, „Solino“) ist eines der größten deutschen Regie-Talente. Fernab von teutonischem Einheitsfilmbrei inszeniert Akin stets mit unbändiger Leidenschaft und ohne Rücksicht auf Konventionen und Verluste. Das gilt vor allem für seinen Erstling „Kurz und schmerzlos“, zu dessen Wurzeln er mit „Gegen die Wand“ zurückkehrt. Angesiedelt in Hamburg-Altona erzählt er nicht nur die schmerzvolle Liebesgeschichte zwischen Sibel und Cahit, sondern führt dem Zuschauer auch gleichzeitig den Mikrokosmos der in Deutschland lebenden Türken vor, die teils in der zweiten und dritten Generation viele ihrer Einflüsse verloren haben, aber dennoch nicht von den alten Traditionen, die durch das Elternhaus geprägt sind, loskommen.

    Da es Akin um höchstmögliche Authentizität geht, ist sein Film optisch wie inhaltlich rau und schmutzig. Die Sprache ist rüde, aber realistisch, die Dialoge packend. In der ersten Hälfte mischt Akin auflockernde, trockene Komik in seine Geschichte, die sich aber mit zunehmender Dauer verabschiedet. Der Knackpunkt von „Gegen die Wand“ ist ohne Zweifel das letzte Filmdrittel. Bis dahin inszeniert Akin mit traumwandlerischer stilistischer Sicherheit kraftvoll, brutal und präzise, bevor es zu einem radikalen Bruch in der Geschichte kommt. Der folgende Handlungsstrang in Istanbul bringt den Film zunächst einmal gehörig aus dem Rhythmus. Das Tempo leidet, der Erzählstil ist ein völlig anderer. Zum Glück bekommt Akin doch noch die Kurve und kann „Gegen die Wand“ zu einem befriedigenden Ende bringen. Diese minimal Schwäche mindert die Qualität und unbändige Kraft des Films kaum. Denn das, was Akin seinem Publikum bietet, ist einfach zu mitreißend.

    Ein besonderes Lob gebührt auch den Hauptdarstellern. Birol Ünel liefert eine grandiose Performance als suizidgefährdetes Alkohol- und Drogen-Wrack ab. Mit unglaublicher Präsenz zieht er den Film an sich. Sein vom Leben ausgemergeltes Gesicht spricht oft Bände. Er ist wie ein Vulkan, der jederzeit emotional explodieren kann. Auch die Wandlung vom lebensmüden Hänger, der seine türkischen Wurzeln fast vollständig verloren hat („Auf diesen Kanacken-Scheiß habe ich keinen Bock“), zum Mann mit Hoffnung, gelingt Ünel ohne Probleme. Seine Partnerin Sibel Kekilli ist ihm fast ebenbürtig, was schon beachtlich ist, beschränkte sich doch ihre filmische Vita bisher auf einige Pornofilme, was ihr in einigen sehr freizügigen Szenen sicherlich zugute kommt. Ob Kekilli so naiv war zu glauben, dass dies im Medienrummel der Berlinale nicht herauskam oder nicht, lassen wir einmal dahingestellt. Jedenfalls hat sich ihre Vergangenheit als Hardcore-Darstellerin nicht negativ ausgewirkt. Im Gegenteil. Die Kampagne in der Bild-Zeitung und den TV-Boulevard-Magazinen war ihr sicher – und der Film erhielt dadurch weitere kostenlose Promotion. Zudem freut sich die Pornoproduktionsfirma Magma diebisch, dass die sechs Filme mit der Darstellerin „Dilara“ plötzlich wie geschnitten Brot über den Ladentisch gehen. Schauspielerisch kann Kekilli in „Gegen die Wand“ auch ernsthaft durch ihre Natürlichkeit überzeugen. Sie steht für die neue Generation von türkisch-stämmigen deutschen Frauen, die dabei sind, ihren Platz in der Gesellschaft zwischen Moderne und türkischer Familientradition zu finden. Dabei ist ihr Charakter pures emotionales Dynamit und sicherlich - als filmisches Stilmittel - überhöht. Einerseits sehnt sie sich nach Erlösung, nach dem Tod, um aus der Tradition auszubrechen, andererseits genießt sie das Leben in vollen Zügen: Sex, Alkohol, Drogen... Sie ist auf der Suche nach sich selbst.

    Was Akins Inszenierung auszeichnet, ist ihre beinahe schon brutal-direkte Intensität. Wenn Sibel, die in Istanbul am Anfang eine wahre Todessehnsucht entwickelt, von einem Barmann (gespielt von Mit-Produzent Mehmet Kurtulus aus „Nackt“) vergewaltigt wird, hat das eine schockierende Wirkung auf den Zuschauer. Das gilt auch für die meisten Szenen von Birol Ünel, der wie ein tickende Zeitbombe jederzeit hochgehen kann. Ist er emotional im Gleichgewicht, interessiert ihn sein Umfeld herzlich wenig, aber wenn er seine suchtbedingt cholerischen Phasen bekommt, explodiert Ünel auf der Leinwand. Neben der erfrischenden Direktheit spannt Akin geschickt den Bogen von der deutschen zur türkischen Kultur. Um seine Geschichte von Hamburg nach Istanbul zu führen, greift Akin zu einem netten Kunstgriff. Schon früh streut er in seine Hamburg-Bilder einen türkischen Folklore-Chor (die Selim Seslers), den er in Postkarten-Optik vor dem Bosperus platziert, als verbindende Brücke in seine Geschichte ein.

    Seine türkischen Wurzeln hat Fatih Akin nie verhehlt. Er ist sowohl deutscher wie türkischer Filmemacher. Das erweist sich in „Gegen die Wand“ als große Stärke. Er kennt und versteht beide Kulturen und bringt sie auf der Leinwand schmerzhaft, aber geschickt zusammen. Obwohl der Film gerade im Schlussdrittel minimale Schwächen hat, ist das Gesamtwerk dennoch meisterhaft. Und von Akin wird sicherlich noch einiges zu erwarten sein. Seine radikale Liebesgeschichte ohne falsche Rührseligkeiten legt die Basis für eine große Zukunft als authentischer Regisseur.

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