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    Belle de jour - Schöne des Tages
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Belle de jour - Schöne des Tages
    Von Ulrich Behrens

    Ein Fixpunkt ist schwer auszumachen. An was soll man sich klammern? Wo ist Anfang, wo Ende, wo Traum, Realität und Phantasie? Luis Buñuel (1900-1983) war ein Meister der vom Surrealismus (v.a. Dali) beeinflussten Übertragung dessen, was wir Realität nennen, in ein Verwirrspiel zwischen diesen Ebenen des Traums, der Phantasie und der realen Abläufe. Sein bekanntestes Werk ist „Belle de jour - Schöne des Tages“ - und eines seiner besten.

    Eine Kutsche fährt durch eine herbstliche Landschaft. Ein Paar lässt sich fahren. Die Kutsche hält irgendwo, die Kutscher zerren die Frau in den Wald und peitschen sie auf Geheiß des Mannes. Dann vergewaltigen sie die Frau. Traum?

    Es handelt sich um Séverine Serizy (Catherine Deneuve) und ihren Mann, den Arzt Pierre (Jean Sorel). Phantasie, Realität, Traum korrespondieren – nein, nicht mit einem Doppelleben, sondern mit einer dreifachen Schichtung der Existenz der jungen, 23-jährigen, gut aussehenden, in bürgerlichen Verhältnissen lebenden Frau. Wunsch, Unzufriedenheit und Erinnerung sind ein weiteres magisches Dreieck im Leben Séverines – oder nur eine andere Formulierung ihrer Existenz.

    Der Strang der Erzählung von „Belle de jour“ scheint einfach. Die junge Frau führt eine Ehe, liebt ihren Mann wie einen Freund. In ihren Phantasien jedoch gibt sie sich anderen Männern hin, devot und mit einer ordentlichen Portion Masochismus. Als sie von ihrer Freundin Renee (Macha Méril) hört, eine Bekannte verdinge sich stundenweise als Prostituierte, und nachdem ihr der abgeklärte Lebemann Henri Husson (Michel Piccoli), ein Bekannter ihres Mannes (den sie nicht mag), erzählt, er kenne solche Etablissements, und ihr die Adresse von Madame Anais (Geneviève Page) gibt, wagt sich Séverine in deren Haus. Im teuren Kostüm, adrett und unschuldig im Äußeren ihrer bürgerlichen Fassade, schwankt sie zwischen Angst und Neugier, schlechtem Gewissen gegenüber Pierre und dem Drang nach Verwirklichung ihrer geheimsten Träume. Sie bleibt, zwischen zwei und fünf Uhr nachmittags ist sie nun ständig die Belle de jour. Sie legt ihren Namen ab, wie die anderen im Haus der Madame Anais, die schwarzhaarige Charlotte (Françoise Fabian) und die rothaarige Mathilde (Maria Latour) und nicht zuletzt Madame Anais selbst – alles falsche Namen.

    Kühl und unnahbar begegnet sie Pierre, ebenso jedoch ihren Kunden. Séverine erklärt sich nur aus Séverine. Sie hat keine Leidenschaft, sie ist ihre eigene Leidenschaft. Sie trifft auf Monsieur Adolphe (Francis Blanche), den reichen Bonbonfabrikanten, einen dicklichen, kleinen Mann, der Frauen wie seine Ware abschätzt; auf einen asiatischen Kunden (Iska Khan), der ihr eine Schachtel zeigt, die für den Zuschauer ein Geheimnis birgt, etwas, was wir nicht zu Gesicht bekommen, für den Kunden jedoch offensichtlich geheime Wünsche symbolisiert; auf Professor Henri (Marcel Charvey), der sich im Etablissement als Diener verkleidet und seine masochistischen Wünsche mit der Peitsche erfüllt sehen will.

    Belle de jour findet Gefallen an ihrem dreigeteilten Leben, das doch nur eines ist: Gegenüber Pierre erklärt sie, sie komme ihm endlich von Tag zu Tag näher, sie habe keine Angst mehr vor ihm und beider Beziehung. Bei Madame Anais erfüllt sie sich ihre Träume. In ihrer Phantasie lässt sie sich dafür bestrafen (wie in der anfangs des Films gezeigten Kutschfahrt): Pierre und Husson bewerfen sie, die an einen Pfahl auf einer Weide mit Stieren gefesselt ist, mit Schmutz und beschimpfen sie als Hure. In einem Restaurant lässt sie sich von einem Grafen (Georges Marchal) dafür engagieren, schwarz gekleidet die Leiche seiner verstorbenen Geliebten oder Frau in einem offenen Sarg zu spielen, um sich nach Abschluss des nekrophilen Spiels vom Diener des Grafen wie eine Hure hinauswerfen zu lassen.

    Als Séverine den in Schwarz gekleideten Gangster Marcel (Pierre Clémenti) und seinen Kompagnon Hyppolite (Francisco Rabal) bei Madame Anais kennenlernt, sieht sie sich dessen Nachstellungen ausgesetzt. Séverine kündigt bei Madame Anais. Marcel will Belle de jour für sich, will ihre wahre Identität enthüllen, taucht bei ihr zu Hause auf und droht, Pierre alles über sie zu erzählen. Dann schießt Marcel auf Pierre, der fortan sein Leben gelähmt im Rollstuhl verbringen muss. Marcel wird auf der Flucht von einem Polizisten erschossen. Und Henri erzählt Pierre von Séverines Tätigkeit bei Madame Anais.

    Als Séverine nach Henris Besuch zu Pierre ins Zimmer geht, nimmt der seine dunkle Brille ab, steht auf, geht zu Séverine, die, als sie die Geräusche trabender Pferde hört, auf den Balkon geht. Eine leere Kutsche fährt vorbei. Phantasie?

    Anfang und Ende des Films schließen sich wie ein Zirkel. Aber wo ist Anfang und Ende, wo Phantasie, Realität und Traum? Buñuel lässt diese Frage offen, so, wie er die Frage, was sich in dem Kästchen befinde, das der asiatische Kunde Belle de jour zeigte, mit den Worten beantwortete: „Was sie wollen.“

    Man könnte Séverines Ausflüge zu Madame Anais durchaus auch als Phantasie interpretieren. Für Buñuel scheint dies jedoch nicht das Entscheidende. Séverines Existenz in einer durch und durch großbürgerlichen Welt ist vor allem von der Schizophrenie dieser großbürgerlichen Welt selbst bestimmt. Das Auseinanderklaffen von Wunsch und Existenz, von Phantasie und Realität zwingt Séverine zum einen, ihr als Schuld empfundenes zweites Leben bei Madame Anais im Traum zu sühnen. In der bürgerlichen Existenz ist sie nicht bei sich selbst, und in der gelebten, aber eben auf die eigene Prostitution bezogenen Wunscherfüllung ist sie als Belle de jour nicht in ihrer offiziellen Existenz.

    Marcel, der Gangster – gezeichnet durch eine riesige Narbe am Rücken und ein metallverstärktes Gebiss, dem schon einige Zähne fehlen (Zeugen seiner zwar illegalen, aber dennoch offiziellen Existenz) –, will die Fassade der Belle de jour herunterreißen – und kommt dabei um. Pierre, der nichts ahnende Ehemann, wird zum Opfer – und zwar zum für Séverine geradezu optimierten Opfer. Denn sein Gefesseltsein an den Rollstuhl verschafft Séverine einen Ehemann, der ihrer schizophrenen Lebensweise gerecht geworden ist. Sie muss nicht mehr mit ihm schlafen. Sie könnte sich wiederum als Belle de jour betätigen. Der Tod Marcels verschafft ihr zudem die Befreiung von einem Mann, der die von ihr gesetzten Grenzen überschreiten wollte. Der „Verrat“ Henri Hussons, der Pierre offenbart, was Séverine vor ihm verbergen wollte, entpuppt sich sozusagen als notwendige Korrektur, um die Verhältnisse ins Lot zu bringen. Die Kutsche, die Séverine in der Schlusssequenz vom Fenster aus sieht, ist leer. Eine Bestrafung durch Pierre ist nicht mehr notwendig. Sie ist die Siegerin in beider Beziehung; sie kann sich – wenn sie es für nötig empfindet – die Strafe selbst aussuchen. Ihr offizielles Verhältnis mit Pierre, ihre offizielle Existenz, wird damit nicht mehr belastet. Ihr Gewissen wird frei, weil sie sich ihre phantasierte Strafe selbst erwählen kann. Es ist wie in der Kirche: die Beichte nimmt einem alle Schuld.

    Doch möglicherweise benötigt sie dies auch gar nicht mehr und sexuelle Abstinenz wird im Zentrum ihres künftigen Lebens stehen.

    Die Kontinuität sowohl des schizophrenen Lebens Séverines als auch im übertragenen Sinn bürgerlichen Lebens überhaupt jedenfalls ist gewährleistet.

    Trotz allem bleibt eine Unbestimmtheit in „Belle de jour“, ein vages, aber dennoch unheimliches Gefühl der Unsicherheit, der Haltlosigkeit, des Flüchtigen, denkt man etwa an einen anfangs des Films gezeigten Traum, eine Erinnerung möglicherweise, in der Séverine als kleines Mädchen von einem erwachsenen Mann (möglicherweise dem Vater) missbraucht wird. Diese phantasierte Erinnerung wird nur als Andeutung gezeigt, ist aber dennoch deutlich in ihrer Aussage.

    Catherine Deneuve war diese Rolle einer gut situierten, kühlen und sicherlich auch skrupellosen Frau auf den Leib geschnitten. Das Hin und Her zwischen tief sitzender, aber eingesperrter Angst und kalt verfolgtem Begehren in einer räumlich abgespaltenen zweiten Welt, die nur Spiegelbild der ersten ist, bedarf eines Einfühlungsvermögens, das die Deneuve für solche Rollen prädestinierte. Jean Sorel als ihr Ehemann hatte es da wesentlich leichter mit seiner Rolle, und dennoch überzeugen er und vor allem Michel Piccoli in ihrem Spiel durchaus.

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