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    Der letzte Mann
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Der letzte Mann
    Von Christian Schön

    „Heute bist Du der Erste, geachtet von Allen, ein Minister, ein General, vielleicht sogar ein Fürst – Weißt Du, was Du morgen bist?!“

    Kleider machen Leute. Diese einfache, mundartliche Einsicht bot nicht nur den Stoff für die gleichnamige Novelle von Gottfried Keller, sondern liefert auch den Grundkonflikt von Friedrich Wilhelm Murnaus „Der letzte Mann“. Die relative Zeitlosigkeit eines Themas rettet Filme, genauso wie Werke der Weltliteratur, über die Zeit. Es gibt kaum einen Tag, an dem man sich nicht mit dem Thema auseinandersetzen müsste: Ob man nun einem Dresscode unterliegt, wenn man in die Arbeit geht, die Abendgarderobe für öffentliche Veranstaltungen anlegt oder einfach nur den Wohlfühlpullover im Eigenheim trägt: die äußeren Hüllen, mit denen man sich jeden Tag schmückt, drücken einen Teil dessen aus, was man als Persönlichkeit beschreibt. Gleichgültig welche Wahl man dabei trifft, oder welchen Stellenwert dieser Bereich bei jedem persönlich hat, bietet man den Menschen, die einem begegnen, so die Möglichkeit anhand des Äußeren zu lesen, welchem Stand man zugerechnet werden, wie penibel oder nachlässig man erscheinen möchte. Schicke und teure Kleidung ruft dabei einen besonderen Effekt bei den Mitmenschen hervor. Murnaus Stummfilmklassiker „Der letzte Mann“ inszeniert die tragischen Folgen, die bei einem Verlust des Identifikationsobjekts Kleidung eintreten können.

    Im Hotel Atlantis arbeitet der Held der Geschichte als Potier (Emil Jannings), dem – nebst seinem Bart – eine prächtige Uniform dazu verhilft, seine Arbeit voller Stolz ausführen zu können. Diesen braucht er auch, da er als der erste Mann des Hotels, dem die Gäste begegnen, das gute Image des Grandhotels repräsentieren muss. In der eher ärmlichen Wohngegend, in der er mit seiner Nichte (Maly Delschaft) ein bescheidenes Quartier teilt, verschafft ihm sein Auftreten Respekt und Ansehen. Eines Tages beobachtet der Geschäftsführer (Hans Unterkircher) des Hotels, dass der Portier einen kleinen Schwächeanfall hat, woraufhin er ihn kurzer Hand aus seiner Position entlässt und ihn zum Toilettengehilfen degradiert. Eine Welt bricht für den Portier zusammen, besonders weil zudem die Heirat seiner Nichte kurz bevorsteht, zu der er nicht ohne sein geschätztes Arbeitsgewand kommen kann. Kurzer Hand stiehlt er dieses aus dem Schrank im Zimmer des Geschäftsführers. Nachdem er so die Hochzeit überstanden hat, kommt es zum nächsten Zwischenfall: Eine seiner Nachbarinnen möchte dem Portier gerne eine warme Mahlzeit vorbei bringen, wobei sie feststellt, dass er gar nicht mehr an seiner gewohnten Position vorzufinden ist. Der Geschäftsführer zeigt ihr den neuen Arbeitsplatz des Portiers. Erschrocken rennt die Nachbarin nach Hause und die Nachricht vom Abstieg des Portiers macht wie ein Lauffeuer die Runde. Der Portier scheint ganz unten angekommen zu sein. Doch eines Tages stirbt ein Millionär beim Toilettengang in den Armen des ehemaligen Portiers, der dieser sein ganzes Vermögen vermacht. Dieser Glücksfall stellt die ganze Welt des Portiers auf den Kopf…

    Uniformen haben, gerade in der Geschichte Deutschlands, einen besonderen Wert in der Diskussion über das äußere Erscheinungsbild erlangt. Abgesehen von der nationalsozialistischen Utopie von der uniformen Gestaltung des ganzen deutschen Volkes, die auch vor genetischem Design, in Form des Plans zur Züchtung einer Herrenrasse nach blond-blauäugigem germanischen Ideal, nicht halt machte, gelten die Träger von Uniformen genuin als Personen des Respekts und genießen höheres – mitunter ungerechtfertigtes – Ansehen. In einem anderen Film, der die Ursprünge und Folgen dieser Tendenz reflektiert, Wolfgang Staudtes Satire „Der Untertan“, der im wilhelminischen Deutschland spielt, wird unter anderem gezeigt, wie in einem System Autoritätsgläubigkeit und Duckmäusertum vor den Uniformierten gekoppelt ist. Passt jemand, rein Äußerlich, nicht ins Bild, wird er nicht geachtet, oder gar verfolgt. Genau darin liegt das paradoxe Ausmaß des Phänomens. Denn je mehr den Äußerlichkeiten Bedeutung zugemessen wird, desto weitreichender sind die daraus resultierenden gesellschaftlichen, sozialen und politischen Folgen. Wenn eine Abweichung vom geforderten Sollbild zum Ausschluss aus einer Gruppe führt, verliert man, als Teil der Gemeinschaft, gleichzeitig mit dem Äußeren jedes zuvor geerntete Ansehen, wie es auch dem Portier in „Der letzte Mann“ ergeht, der nach und nach aus allen gewohnten Bahnen geworfen wird.

    Im Vergleich zu Gottfried Keller fügt Murnau, genauer gesagt dessen Drehbuchautor – der selbsternannte Dichterfürst unter den Drehbuchautoren Carl Mayer („Das Cabinett des Dr. Caligari“) –, diesem Grundkonflikt einen weiteren Aspekt hinzu, der den Film ironisch von innen heraus aushöhlt. Denn Ansehen und Respekt sind einem nicht nur sicher, wenn man die richtigen Kleidungsstücke trägt. Auch das pekuniäre Vermögen vermag ähnliche „magische“ Effekte auf die Umgebung auszulösen, wie dies die Uniform des Portiers im Vorfeld bewerkstelligt hat. Mit der Doppelung des Konflikts geht zum einen eine Ironisierung des Gezeigten einher, zum andern aber, viel entscheidender, stellt sich die Frage, inwiefern Kleider Leute machen, radikaler als bei Keller. Denn nicht nur bei den Kleidern geht es in letzter Konsequenz um Bedeutungskonstruktion, sondern in der (Film-)Kunst überhaupt ist es zentral, bestimmten Gegenstände, Handlungen, etc. eine besondere Bedeutung zu geben. Während der Held bei Keller ständig für etwas gehalten wird, was er gar nicht ist, also Bedeutung bekommt, obwohl es keinen Grund dafür gibt, verliert der Portier mit seiner Kleidung an Bedeutung, um in der Folge aufzudecken, dass die Bedeutungskonstruktion ohnehin unabhängig vom Äußeren stattfinden kann und Geld allein eigentlich auch reicht. Die Frage, die eigentlich dahinter steckt, ist die nach der Echtheit. Denn es ist sowohl fraglich, ob die Anerkennung aufgrund von einer getragenen Uniform, als auch die Anerkennung wegen eines gut gefüllten Kontos wirklich echt ist.

    Dass es sich bei Murnaus „Der letzte Mann“ nun um echte Filmkunst handelt, bedarf einer kurzen Erläuterung: Innerhalb des Oeuvres von Murnau markiert „Der letzte Mann“ den entscheidenden Einschnitt, der Murnau zum Durchbruch und zu internationalem Erfolg verholfen hat. Das liegt an mehreren Faktoren, die hier zusammenkommen. Das Genre des Films ähnelt noch dem seiner früheren, kammerspielartigen Filme. Allerdings änderte sich in „Der letzte Mann“ die filmische Erzähltechnik. Im Gegensatz zu seinem Namen war der Stummfilm nämlich nie wirklich stumm. Diese Aussage betrifft sowohl die musikalische Rahmengestaltung, die, je nach Aufwand, Klavier- oder Orchesterbegeleitung einschließt, als auch die dialogische Gestaltung meint. Da das Gesprochene im Stummfilm nicht direkt auf eine Tonspur aufgenommen werden konnte, wurden Zwischentitel eingefügt, auf denen zu lesen war, was zuvor gesprochen worden ist. Der Nachteil bei dieser Methode ist, dass der filmische Fluss jeweils durch eine dieser schwarzen Schrifttafeln unterbrochen wurde. Und das ist es schließlich, was Film seinem Wesen nach ist – Bewegung. „Der letzte Mann“ von Murnau erbringt den Beweis, dass man einen Film erzählen kann, ohne auf die störenden Tafeln zurückgreifen zu müssen.

    Durch die Befreiung von den damaligen Konventionen filmischen Erzählens gelang es Murnau zu einer völlig neuen Filmsprache zu gelangen. Diese konzentrierte sich vielmehr auf Gesten und Mimik, wozu Emil Jannings, der zur damaligen Zeit zu den gefeierten Schauspielstars gehörte, besonders beitragen konnte. Zudem gibt es surrealistisch traumhafte Sequenzen, welche mit symbolischem oder metaphorischem Charakter und - wofür der Film unter anderem besonders bekannt geworden ist - Szenen mit der „entfesselten Kamera“, womit Kamerafahrten im freien Raum bezeichnet werden. Diesen merkt man natürlich die zeitliche Distanz an, die zwischen ihrem Entstehen und dem liegt, was heute möglich ist. Bei einer Kamerafahrt verliert diese schon mal die verfolgten Personen aus dem Blickfeld, oder es kommt zu unsauberen Überblendungen bei einer „Fahrt“ durch ein Glasfenster. Nichtsdestotrotz beeindrucken diese Szenen allesamt dadurch, dass sie immer noch, ohne irgendwie fremd anzumuten, perfekt funktionieren und in vielen Fällen fast kreativer in ihren Lösungsansätzen sind, als heutige computergenerierte Effekte.

    Am Anfang der Filmgeschichte gab es einen Traum: Der Film sollte das Medium werden, das den Beweis erbringt, dass es eine universelle Sprache gibt. Diese Sprache sollte die Sprache des Films sein. Da diese von Beginn an nicht von der gesprochenen Sprache losgelöst gedacht wurde, stellte sich jedoch nach wie vor das Problem der Übersetzung, wollte man Stummfilme in anderen Ländern zeigen. „Der letzte Mann“ musste letzten Endes, als einer der wenigen Filme aus dieser Zeit, nicht übersetzt werden (auch wenn an wenigen Stellen Schrift eine Rolle spielt), da er mit rein filmischen Mitteln konstruiert ist. Wenige Jahre nach Murnaus Projekt (1924) versuchte der russische Regisseur Dziga Vertov in seinem Film „Der Mann mit der Kamera“ (1929) eine ähnliche universelle Sprache des Films zu entwickeln. Im Gegensatz zu Vertovs Film wirkt „Der letzte Mann“ jedoch weniger konstruiert und experimentell und überzeugt durch eine zutiefst emotionale Geschichte, die letztlich mit einfachen Mitteln erzählt wird.

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