Nachdem Dominik Molls Thriller „Lemming“ 2005 die Filmfestspiele in Cannes eröffnete, wurde der Film in der dem Event folgenden Berichterstattung oft mit den Werken von Alfred Hitchcock verglichen. Aber außer seinem eher klassischen Inszenierungsstil und einer gewissen Art von spitzbübischem Humor hat „Lemming“ eigentlich nicht viel mit der Arbeit des Altmeisters des Suspense gemein. Vielmehr lassen sich Parallelen zu den langsam erzählten Mystery-Thrillern aus dem asiatischen Raum ziehen. So könnte man den hervorragend inszenierten und äußerst intensiven „Lemming“ am besten als anspruchsvoll französische Variante solcher Geistergeschichten wie „A Tale Of Two Sisters“ oder „Rouge“ mit einem kleinen Spritzer Hitchcockschen Humors beschreiben.
Eigentlich sind Alain (Laurent Lucas) und Bénédicte Getty (Charlotte Gainsbourg) das Musterehepaar schlechthin. Gerade erst in ihr neues schickes Haus eingezogen, sind sie noch immer verliebt wie am ersten Tag. Als jedoch Alains Chef Richard Pollock (André Dussollier) und seine Frau Alice (Charlotte Rampling) zu einem eleganten Abendessen erscheinen, bekommt die Bilderbuchfassade erste Kratzer. Alice rastet völlig aus, kippt ihrem Mann ein Glas Rotwein ins Gesicht und macht allen Anwesenden eine äußerst unangenehme Szene. Am nächsten Morgen findet Alain im verstopften Abfluss der Spüle einen vermeintlich toten Lemming und das Unglück nimmt seinen Lauf. Als Richard nach Korea auf Geschäftsreise geht, macht Alice Alain ziemlich offensive sexuelle Avancen, die dieser jedoch nach kurzem Zögern ablehnt. Kurze Zeit später besucht Alice die überraschte Bénédicte und erschießt sich im Gästezimmer des jungen Ehepaares. Während Alain mit dem Schock zunächst recht gut zurechtzukommen scheint, wird Bénédictes Verhalten immer merkwürdiger…
Der Film beginnt mit einer statischen Einstellung, die Alain zeigt, wie er einer Gruppe von Investoren gerade etwas über die blühende Zukunft von technisierten Haushaltsgeräten erzählt. Eine sehr klassische und recht ernst gehaltene Szene, die Regisseur Moll aber schnell ins Absurd-Komische abgleiten lässt. Alains neueste Errungenschaft ist eine fliegende Webcam, mit der der abwesende Wohnungsbesitzer von überall aus Zuhause nach dem Rechten schauen kann. Dabei will die kleine rote hubschrauberähnliche Kugel, die viel eher als Erfindung eines verrückten Professors in eine Zeichentrickserie für Kinder passen würde, sich so gar nicht in die äußerst streng gehaltene Bildkomposition des Films einfügen. Diese beiläufige und zugleich urkomische Art, das Irrationale in „Lemming“ einzuführen, ist eine erfrischend andere, wachrüttelnde Qualität des Films.
Später im Verlauf des Films macht dieses Absurd-Komische dann immer mehr dem Irrational-Erschreckenden Platz, das Unerklärliche nimmt schleichend, aber unaufhaltsam die Szenerie in Beschlag. Moll gelingt es wunderbar so die Waage zu halten, dass der Zuschauer immer nur sowenig weiß, dass er neugierig auf die Auflösung bleibt, aber gleichzeitig genug versteht, um mitdenken und vor allem mit den Charakteren mitfiebern zu können. Die Spannungsschraube wird dabei nicht nur durch das Einstreuen von mysteriösen Geschehnissen sondern auch durch die äußerst geschickte Inszenierung immer weiter angezogen. Moll komponiert seine Sequenzen mit einer solch kontrollierten Unaufgeregtheit, dass die wenigen, aber genau getimten intensiven Szenen umso spektakulärer wirken.
Obwohl sie nur die kleinste der vier Hauptrollen ausfüllt, führt Charlotte Ramplings (Basic Instinct 2, Die Hausschlüssel, Swimming Pool) unheimliche Präsenz als geheimnisvolle, aber vor allem auch äußerst unangenehme Alice den Film an. Auch Charaktermime André Dussollier (Die fabelhafte Welt der Amelie, Ruby und Quentin) liefert als schleimiger Chef und notorischer Fremdgänger eine Galavorstellung in kontrollierter Schauspielkunst ab. Umso beeindruckender ist es, dass auch die beiden Stars der jungen Garde mit den beiden Urgesteinen locker mithalten können. Laurent Lucas („Harry meint es gut mit dir“, „Wer tötete Bambi?“) ebnet als pragmatischer Normalo für den Zuschauer den Weg in die absurde Welt des Films. Und Charlotte Gainsbourg (21 Gramm, The Science Of Sleep) paart die anfängliche Geduld und Harmlosigkeit ihrer Rolle so mit ihrer eigenen unendlich unschuldigen Ausstrahlung, dass die später folgenden, kurzen Ausbrüche ihrer Figur den Zuschauer doppelt intensiv treffen.
„Lemming“ ist ein anspruchsvoller, aber deshalb nicht minder spannender Thriller und ein Muss für jeden Fan des französischen Films. Auch Freunde des gepflegten und unterhaltsamen Art-House-Kinos werden hier ihre wahre Freude haben. Nur ein großes Publikum wird diese großartig besetzte, wirkungsvoll inszenierte und erfrischend andersartige Geistergeschichte wie so viele andere so genannte kleine Filme leider wieder einmal nicht begeistern dürfen.