2 plus 2 ist 5! Wer diese filmische Annahme nicht akzeptieren kann, sollte einen möglichst großen Bogen um Marc Forsters düsteres Meisterwerk „Stay“ machen. Der optisch brillante Psycho-Thriller ist ein einzigartiges Erlebnis von berauschenden Bildern und einer Geschichte, die es zu entschlüsseln gilt. Erst unter der Oberfläche offenbaren sich die Feinheiten. Eine endgültige Lösung gibt es nicht, aber dafür umso mehr Ansätze... Wer in den Genuss eines der außergewöhnlichsten Filme der letzten Zeit kommen will, muss eine gehörige Portion Aufgeschlossenheit mitbringen.
Der junge Henry Letham (Ryan Gosling) ist irritiert, dass plötzlich ein neuer Psychiater vor ihm steht. Wo ist die ihm vertraute Dr. Beth Levy (Janeane Garofalo) geblieben? Sam Foster (Ewan McGregor), ihre Vertretung, will nicht so recht herausrücken mit der Wahrheit. Dennoch gelingt es dem Psychologen, langsam das Vertrauen von Henry zu erlangen - bis Sam durch einen Paukenschlag wachgerüttelt wird: Der begabte Künstler Henry will sich an seinem 21. Geburtstag umbringen. Foster hat noch drei Tage Zeit, ihn davon abzubringen. Diese Herausforderung belastet auch seine Beziehung zu der Künstlerin Lila (Naomi Watts), die Sam vor einiger Zeit nach einem Selbstmordversuch gerettet hat. Je mehr er in Henrys Welt eintaucht und Nachforschungen anstellt, desto verwirrter wird er. Sam trifft auf Personen aus Henrys Leben, die eigentlich schon tot sein müssten. Die Zeit drängt, um seinen Patienten vor dem Tod zu bewahren, aber Fosters Geisteszustand gerät immer mehr außer Kontrolle, die Grenzen zwischen Realität und Vorstellung verschwimmen.
Der Deutsch-Schweizer Marc Forster zählt in Hollywood aktuell zu den interessantesten Regisseuren. Geboren 1969 in Ulm wuchs er mit seinen deutschen Eltern in der Schweiz auf, bevor er Anfang der 90er Jahre nach New York ging und dort an der NYU Film studierte. Mit seinen beiden Filmen Monster´s Ball und Wenn Träume fliegen lernen erregte Forster Aufsehen und begeisterte sowohl Kritiker wie Publikum. Das Interessante: Seine beiden Hits sowie „Stay“ sind vom Genre her so unterschiedlich, wie sie nur sein könnten. Egal, was Forster anpackt, es kommt immer etwas Besonderes heraus. So auch diesmal. Mit „Stay“ serviert der Filmemacher ein visuell atemberaubendes Stück Kino, das in seinem enigmaartigen Stil an David Lynchs grandiosen Mulholland Drive erinnert. Die Handlung aus der Feder von David Benioff (25 Stunden, Troja, „Wolverine“) ist sicherlich nicht derart abgedreht wie bei Lynch, aber die Konsequenzen der Storyline sind nicht minder verquer.
Wenn am Ende die Credits einsetzen, steht der Zuschauer erst einmal verdutzt da. Erst in der Reflexion des Gesehenen und vielleicht auch in der Diskussion mit der Kinobegleitung lassen sich die Puzzlestücke zu einem befriedigenden Bild zusammensetzen. Was habe ich hier eigentlich erlebt? (Filmische) Realität? Reine Fiktion? Einen Traum? Eine Mischung aus beidem? „I have always been inspired by dreams and fascinated by alternate versions of reality“, erklärt Forster. Sein guter Rat an die Zuschauer: „I think it is better to look at this movie almost like a window – you have to look through the visuals rather than simply at them. It’s a story that, because it is all a dream, is wide open to all kinds of interpretation. The only thing as the director that I am able to control are the visual clues – and the rest is up to the viewer.“
„Stay” schlägt einen konsequent düsteren Ton an und entwickelt mit zunehmender Dauer einen Sog auf den Betrachter, so denn er sich darauf einlässt. Forster zaubert hypnotische, stimmungsgeladene Bildkompositionen auf die Leinwand, die teils von sensationeller Qualität sind. In einer Szene zeigt Forster Ryan Gosling, wie er als Henry in einer Stripbar sitzt. Inhaltlich passiert hier nicht viel, aber die Intensität dieser genialen Montage in Verbindung mit einem perfekten Score sind das Ereignis. Dazu ist in Goslings Gesicht die ganze Last seines erschütternden Seins ablesbar. Allein diese kurze Sequenz ist für Liebhaber extremer Optik das Eintrittsgeld wert. Von diesen visuellen Feinheiten hat Forster noch viel mehr auf Lager. So sind zum Beispiele Elemente wie Fotos oder Bilder zu sehen, die sich in der nächsten Szene sehr elegant übergangslos ins Zentrum der Handlung pirschen. Selbst in der Wahl der Kostüme verbergen sich kleine Hinweise auf die Deutung der Handlung. So trägt Ewan McGregors Charakter Sam beispielsweise Hosen, die einen Tick zu kurz sind, um der Norm zu entsprechen. In einem Interview erklärt Regisseur Forster, warum dies so ist.
SPOILER Henry betrachtet Sam am Ende sterbend auf der Straße liegend, wie er sich hockend über ihn beugt, um zu helfen. Aus dieser Perspektive wirken die Hosenbeine für Henry zu kurz, weil sie durch die Hockposition nach oben gezogen werden. Das transportiert er in seine Vision zwischen Leben und Tod, die sich als Handlung des Films herauskristallisiert. Generell mischt Henry Personen, Eigenschaften und Taten wild durcheinander und schafft sich seinen eigenen Film, den der Zuschauer schließlich zu Gesicht bekommt. SPOILER ENDE
Schauspielerisch weist „Stay“ erstklassiges Niveau auf. Ewan McGregor (Die Insel, Big Fish, Moulin Rouge, Trainspotting) liefert seine beste Leistung seit langem ab und dient dem Publikum als Zugang zur Geschichte. Der Zuschauer betrachtet das Geschehen aus Sams Sicht. Die großartige Naomi Watts (Mulholland Drive, 21 Gramm, The Ring, King Kong) bekommt wieder eine ausgezeichnete Gelegenheit, mit feinen Nuancen zu glänzen und ihrer Lila Stärke und Verletzlichkeit gleichermaßen zu verleihen. Ryan Gosling (Wie ein einziger Tag, Mord nach Plan, The United States Of Leland, Che) stiehlt McGregor aber tatsächlich noch ein ums andere Mal die Schau. Seine Mimik und sein ausgefeiltes Spiel sind wirklich sehenswert und tief berührend.
Mit „Stay“ ist Regisseur Marc Forster ein beeindruckender, aber auch umstrittener Film geglückt. Wer sich von den beschriebenen Stärken angesprochen fühlt, sollte unbedingt ein Kinoticket lösen, um in den Genuss der herausragendsten Kinobilder der Saison zu kommen. Wem das alles zu wild, wüst und wirr klingt, dem sei der Film ausdrücklich nicht empfohlen. „Stay“, dieser albtraumhafte, zutiefst düstere und bedrohliche Trip durch das nächtliche New York, elektrisiert und lädt gerade dazu ein, diesen Thriller mehrfach zu gucken...