Der Animationsfilm hat in Japan eine lange Tradition und einen festen Platz in der Kultur des Landes. Während die Anime- und Mangafiguren in dem asiatischen Land gleichberechtigt mit den anderen Künsten massentauglich sind und als Kunstform ernst genommen werden, kriechen sie hierzulande momentan noch zaghaft aus ihrem Nischendasein hervor und erobern die Herzen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen. Mit „Das wandelnde Schloss“ ist Meister Miyazaki ein fesselndes Märchen gelungen, das viele Überraschungen bereithält.
Es beginnt alles, wie es in vielen Märchen beginnt. Die bescheidene Sophie fristet ein recht trostloses Dasein als Hutmacherin im Geschäft ihres verstorbenen Vaters. Während Mutter und Schwestern sich fein herausputzen und zum großen Festtag der Stadt ausgehen, bastelt sie noch liebevoll an den Hüten. Auf dem Weg in die Stadt wird sie von einem charismatischen, gut aussehenden jungen Mann vor zudringlichen Männern gerettet. Sie schwebt wortwörtlich mit ihm im siebten Himmel. Was sie nicht weiß: ihr Herzensbrecher ist der berühmt-berüchtigte Zauberer Hauro. Dessen Herz jedoch trachtet seit langem eine bösartige Hexe zu gewinnen, die Sophie kurzerhand mit einem Fluch belegt. Von heute auf morgen im gebrechlichen Körper einer 90-Jährigen beschließt Sophie, sich ihrem Schicksal zu stellen und bricht auf in eine fremde Welt voller geheimer Mächte. Der Angst und den Warnungen der Menschen, die ihr auf dem Weg dorthin begegnen, stellt sie ein Urvertrauen in sich selbst entgegen.
Bald gesellen sich eigenwillige Begleiter zu ihr, mit deren Hilfe sie schließlich das wandelnde Schloss findet, Hauros ruhelose Heimat. Allein das Ersinnen dieser wundersamen Behausung, deren Bewohner mit ihr selbst und untereinander organisch zusammenwirken, zeugt von einer Phantasie, die voller Visionen steckt. Mit ihrer unerschrockenen Geradlinigkeit nimmt Sophie bald die trotzköpfigen Hausbewohner für sich ein. Nur Hauro scheint völlig gleichgültig und stolz in sich gekehrt. Es sind nur wenige Momente, in denen seine innere Unsicherheit und Sensibilität aufblitzt. Als er vom König zu Hilfe gerufen wird, um seine übernatürlichen Kräfte in den Dienst eines Krieges zu stellen, wird es ernst. Die Feinde lauern an jeder Ecke und fahren gewaltige Geschosse auf. Ein Verwirr- und Intrigenspiel nimmt seinen Lauf und droht, die Welt ins Verderben zu stürzen. Inmitten dieser Ränkespiele um Leben und Tod begreift Sophie, dass kaum jemand das ist, was er zu sein vorgibt und dass es großer Kraft bedarf, um hinter den Maskeraden das wahre Wesen der Menschen zu erkennen. Letztlich kann jeder sein Glück nur dann finden, wenn er den eigenen Dämon besiegt, indem er sich ihm offen stellt. Hilfreich ist dabei keine äußere Kraft wie Muskeln oder Zauberkünste, sondern eine innere Kraft, die im Vertrauen auf sich selbst liegt.
„Das wandelnde Schloss“ ist wie sein erfolgreicher Vorgänger „Chihiros Reise ins Zauberland“ ein Märchen im besten ursprünglichen Sinne. Es erzählt mit liebevollen Details von Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, menschlich zu handeln. Zerfressen von unerfüllter Sehnsucht nach Liebe oder der Gier nach Macht und Geld, geplagt von Selbstzweifeln selbst bei schier unbesiegbaren Kräften, machen sie sich gegenseitig das Leben schwer. Wie in einem großen Schachspiel verändert jede Figur mit ihren Bewegungen das Kräfteverhältnis, ruft neue Strategien auf den Plan und versucht dabei, den anderen Schachmatt zu setzen. Doch das Taktieren mit dem angenommenen Verhalten der Gegenspieler geht nicht immer auf.
Die Figur der Sophie ist die klassische Unschuld, ein junges Mädchen voller Aufrichtigkeit, dem Neid ein Fremdwort ist. Ohne jede körperliche Macht verweigert sie die Zuhilfenahme von Listen, und das in einer Umgebung, in der jeder jedem etwas vorgaukelt. Selbst die Behausung Hauros, das wandelnde Schloss, hat vier austauschbare Ein- bzw. Ausgänge, die seine Bewohner wählen können, um ihren momentanen Wünschen Genüge zu tun. Sophie für ihren Teil bleibt immer offen und ehrlich, egal welchen Rang ihr Gegenüber einnimmt und welche Vorurteile ihm oder ihr vorauseilen. Vielleicht ist die Namensgebung kein Zufall, kommt Sophie doch von der lateinischen „sophia“, der Weisheit. Die versucht, in jedem das Eigentliche zu entdecken und damit eine ausbalancierte Harmonie entstehen zu lassen. Dass es trotzdem nicht immer zimperlich zugeht, wenn man den Kampf zwischen Gut und Böse austrägt, versteht sich von selbst – man sehe sich nur die guten alten Grimm’schen Märchen an. Im Gegensatz zu diesen, die den Antagonismus von Gut und Böse beschwören, erscheint bei Miyazaki jeder als Opfer seiner eigenen Schwächen, der aus Angst oder schlechten Erfahrungen heraus sein gutes Herz unter einer dicken Schicht schlechte Charaktereigenschaften verbirgt. Die Botschaft der Vergebung, die allein alle inklusive der eigenen Wunden heilen kann, macht diese Geschichte sehr sympathisch.
Die Welt, die in hier entworfen wird, ist kindlich phantasievoll und findet den richtigen Ton zwischen Humor und Nachdenklichkeit. Obwohl „nur“ gezeichnet, entwickeln die Figuren vielschichtige Ausdruckformen und dürfen sich von ihrem Typendasein entfernen hin zu Charakteren. Das ist nicht zuletzt der großen Kunst des japanischen Anime zu verdanken. Das Geschehen wird getragen von berückender Musik, in der man schwelgen kann. Die schwungvolle Erzählweise trägt so locker über die knapp 2 Stunden, dass auch die vielen Haken, die die Geschichte schlägt, immer unterhaltsam bleiben, sich nicht wiederholen und bei aller Magie des Films nicht unglaubwürdig wirken, sondern jede für sich eine Aussage transportiert. Die phantastischen Erlebnisse reflektieren die Grundfragen des menschlichen Daseins mit einer moralischen Haltung auf eine Weise, die durch eine vordergründig einfach strukturierte Erzählung Kinder fesselt und durch hintergründige Assoziationen Erwachsene begeistert.