Märchen als Horror? Nun, so weit liegen beide nicht auseinander, wenn man an so manche schreckliche Situation nicht in Grimms Märchen (zurück)denkt. Michael Cohn inszenierte die Schneewittchen-Geschichte 1997 mit Sigourney Weaver in der Rolle der bösen Stiefmutter. Allerdings konnte sich Cohn nicht so richtig entscheiden, ob er einen Märchen-, einen Fantasy- oder einen Horrorfilm drehen wollte. Eine gute Mischung wäre auch etwas wert. Doch „Snow White: A Tale of Terror“ ist von allem ein wenig zu viel und ein wenig zu wenig.
Lord Friedrich Hoffman (Sam Neill) ist mit seiner Frau in einer Kutsche unterwegs. Wölfe lauern im Wald. Als die Kutsche über einen Baumstamm fährt, stürzt sie den Abhang hinunter und Hoffmans Frau, die hochschwanger ist, fleht ihren Mann inständig, ihr Kind zu retten. Jahre später: Die kleine Lilliana Hoffman (Taryn Davis) ist ein quirliges, freches Mädchen, das ihrem Vater und den Angestellten auf der Nase herumtanzt. Hoffman trauert noch immer seiner Frau nach, hat sich allerdings entschlossen, die schöne Claudia (Sigourney Weaver) zu heiraten, die eines Tages mit ihrem Bruder, dem stummen Gustav (Miroslav Táborský), in das Schloss Hoffmans kommt, um die Hochzeit vorzubereiten. Lilliana ist darüber todunglücklich, denn sie will nicht, dass ihr Vater wieder heiratet. Obwohl ihr Claudia einen Welpen schenkt, bleibt Lilliana gegen ihre Stiefmutter eingestellt. Claudia ist eifersüchtig, denn Hoffman teilt seine Liebe zwischen ihr und seiner Tochter, die ihrer Mutter immer ähnlicher sieht. Das will sie nicht akzeptieren.
Nach Jahren ist Claudia endlich von Hoffman schwanger. Doch das Kind stirbt bei der Geburt. Für Claudia ist diese furchtbare Fehlgeburt das auslösende Moment: Sie will Lilliana aus dem Weg räumen und beauftragt ihren Bruder, ihr das Herz der jungen Frau zu bringen und den Rest ihres Körpers in den Kochtopf zu werfen. Doch Lilliana kann dem sie mit einem Messer verfolgenden Gustav entkommen. Statt ihr Herz serviert er Claudia das Herz eines Pferdes. Als die dahinter kommt, muss ihr Bruder sterben. Von nun an verfolgt Claudia, inspiriert durch ihren Zauberspiegel, als Rabe oder alte Hexe, Lilliana, die sich auf der Flucht verlaufen hatte und bei einer Bande von sieben Gaunern irgendwo im Wald gelandet war ...
Cohns Film beginnt wie eine Neuauflage des Märchens der Brüder Grimm. Ausstattung, Kostüme, Musik, Personen wirken wie Märchenfiguren, wie man sie aus etlichen Märchenfilmen (etwa die guten aus der alten Tschechoslowakei) kennt. Von Anfang an jedoch wird diese Märchen-Nacherzählung immer wieder von Grauen durchtränkt, schreckenerregende Wölfe, Kannibalismus, die Angst Lillis vor den rauen Zwergen, von denen einer sie vergewaltigen will, die Hexerei Claudias, die das Schloss und seine Bewohner, zuletzt auch Hoffman in ihren Bann und unter ihre Kontrolle bringt usw. Nur, das alles wirkte auf mich nicht so schreckenerregend wie die Märchengeschichte der Brüder Grimm selbst.
Sicher, der Film hat einige wenige Momente – die Flucht Lillianas, die Szene, als Sigourney Weaver als alte Hexe Schneewittchen den roten Apfel reicht, und die, als Claudia durch Hexerei Bäume entwurzelt, um Lilliana zu töten –, in denen etwas Grauenhaftes steckt. Insgesamt aber kann Cohns Film die ganze Psychologie des Märchens, den Sinn dieses Märchens bzw. überhaupt von Märchen, nicht nahe bringen, im Gegenteil: Es bleibt weitgehend im Dunkeln, warum Claudia diesen Hass auf Lilliana entwickelt, zumal ab einem Zeitpunkt, als Lilliana sich für ihre Distanz zu Claudia regelrecht entschuldigt, sogar das rote Kleid anzieht, das sie von Claudia gereicht bekommen hatte und zunächst nicht tragen wollte.
Nicht nur das: Märchen leben von der Geschichte eines Helden oder einer Heldin, die durch das Grauen der Kindheit und Jugend hindurch zu Erwachsenen werden. Ob Schneewittchen, Hans im Glück, Rotkäppchen, Schneeweißchen und Rosenrot, Aschenputtel oder welches der vielen Märchen auch immer: Sie durchlaufen die Hölle, um in den Himmel zu kommen. Der Ausgang dieser Märchen ist (fast) immer (im Unterschied zu Sagen) ein glücklicher. Die Mächte der Finsternis werden besiegt, man weiß allerdings hinterher warum. In Cohns Film gerät dies alles ziemlich durcheinander. Auch die jugendlichen Helden, etwa David Conrads Dr. Gutenberg oder der verliebte „Zwerg“ Will (Gil Bellows) sind nur Makulatur in einem Spiel, das nicht so richtig Märchen und nicht so richtig Horror sein will. Monika Keena als Lilliana durchläuft das Zelluloid mehr hilflos und ratlos denn als Heldin. Allein Sigourney Weaver hat lichte Momente als böse Stiefmutter, wobei trotzdem im Unklaren bleibt, warum Stiefmütter im Märchen stets als negative Figuren auftauchen. Das hatte nicht unbedingt einen unmittelbar sichtbaren Grund.
Die Ethnologin Ingeborg Weber-Kellermann warnte in ihrem Buch über die Familie vor der Schlussfolgerung einer direkten Korrelation von Märcheninhalten und sozialer Wirklichkeit, da die Märchen aus Elementen verschiedener Kulturschichten und Zeitstile bestünden, aus einer längeren Überlieferungsgeschichte resultierten und besonders die Märchen des 19. Jahrhunderts romantisch gefärbt und dichterisch umgestaltet seien. Allerdings könne insofern ein realer Grund bestehen, als der Neid der Stiefmutter auf das Erbe sowie die Angst um die eigene Position in der Familie zu Spannungen zwischen Stiefkind und Stiefmutter beitragen könnten. Ohne Berücksichtigung des sozial-historischen Hintergrunds könnten diese Märchen kaum eingeordnet werden. In frühgesellschaftlichen Verhältnissen, so Weber-Kellermann, konnten die in den Märchen thematisierten Konflikte nur dann auftreten, wenn der Vater bei Wiederverheiratung gegen die für ihn und seine soziale Schicht geltenden Heiratsvorschriften verstieß.
„Gekoppelt mit dem Verstoß gegen die Endogamie (1) und ihren Folgen für die Familie findet sich meist die Ausnutzung der Stieftochter (z.B. Aschenputtel). Die Opposition: insider-outsider erhält so ihre dramatische Realisierung, und der unerträglichen Familienatmosphäre stellt dann das Märchen die glückliche Ehe der Stieftochter mit dem Prinzen als Befreiung und Lösung gegenüber. Das bedeutet die Rückkehr in normale Verhältnisse in dem Sinne, dass diese Ehe nicht gegen die Endogamienormen der Gesellschaft verstößt. Die Rolle der Stiefmutter ist also sowohl für die Dramaturgie des Märchens wie auch für seine Semantik notwendig, weil nur durch die von ihr verursachten Hindernisse die Prüfungen des Helden oder der Heldin möglich und sinnvoll werden. [...] Für die fremde Frau des Königs – oder des vermögenden Großbauern – waren also die legalen Kinder des Vaters in jedem Falle ein Hindernis, sowohl für ihre Person wie für die Stellung ihrer eigenen Kinder. Daher konzentrierte sich ihr ganzes Sinnen und Trachten auf die Mittel, sie unbemerkt aus dem Wege zu schaffen [..]“ (2).
All diese in den Märchen enthaltende, wenn auch oft verfremdete Logik des Erwachsenwerdens und der Wiedergutmachung im Sinne der sozialen Integration, also auch der Konstitution von Gesellschaft, geht der Film weiträumig aus dem Weg.
Andererseits ist der Film wunderbar photographiert, das muss man Cohn lassen. Die Zauberszenen zum Beispiel, etwa wenn Claudia Statuen zerstört und mit jeder Statue im Wald ein Baum umfällt, sind magisch anziehend inszeniert.
Schade. Aus Schneewittchen hätte mehr werden können. Statt einem Märchen zusätzliche Horroreffekte aufzusetzen, wäre es besser gewesen, das Grauen der Märchenvorlage, der Geschichte selbst wirken zu lassen. Den Charakteren hätte dies auch besser getan, und sie wären überzeugender gewesen. Sam Neill zum Beispiel, um dies noch zu erwähnen, bleibt deshalb im Film eine relativ konturenlose Figur.
(1) Endogamie: Heirat innerhalb Stämmen oder einer Kaste, Heiratsvorschriften
(2) Ingeborg Weber-Kellermann, Die Familie. Geschichte, Geschichten und Bilder, Frankfurt am Main 21990 (11976), S. 24 f.