Zwei Stunden pure Menschlichkeit
Von Jochen WernerDer Wiener Bezirk Favoriten gilt als die gefährlichste Ecke der österreichischen Hauptstadt. Sowohl die Boulevardpresse als auch die rechte bis ganz rechte österreichische Politik sorgen sich so regelmäßig wie öffentlich um die Sicherheit auf den dortigen Straßen und rufen aus sicherem Abstand vermeintliche No-Go-Areas aus. Die Berliner*innen unter euch erkennen das vielleicht wieder, wenn sie reißerische Berichterstattungen über heruntergekommene Neuköllner Ghettos mit der Realität des ihnen vertrauten Hipsterbezirks abgleichen, in dem der Designerkaffee und das Small Batch Craft Beer sieben Euro kosten. Aber der Grund für die Stigmatisierung liegt natürlich hier wie dort auf der Hand, sind doch beide Bezirke stark migrantisch geprägt.
Diese Bevölkerungsstruktur schreibt sich auch sehr deutlich in den neuen Film der großen Dokumentaristin Ruth Beckermann ein, den sie schlicht und keineswegs zufällig „Favoriten“ betitelt – und so den begrenzten Raum, in dem sich der Film selbst verortet, auf einen weit größeren gesellschaftlichen Resonanzraum hin öffnet. „Favoriten“ ist ein Dokumentarfilm über die Schule, genauer gesagt: über die Grundschule. Beinahe drei Jahre lang, von der zweiten bis zur vierten Klasse, begleitet Beckermann die 28 Schüler*innen der Volksschulklasse der jungen Lehrerin Ilkay Idiskut. Im Unterricht und in den Pausen, beim gemeinsamen Spiel und beim Austragen von Konflikten, bei Schulausflügen in die Moschee und in den Stephansdom, und gelegentlich auch gemeinsam mit ihren Familien beim Elternsprechtag – aber stets im erweiterten Rahmen der Institution Schule und ihrer schwierigen Aufgabe, all diese aufgeschlossenen, freundlichen Kinder so gut wie möglich auf das Leben dort draußen vorzubereiten.
Dass diese Vorbereitung nicht immer ganz einfach ist, schimmert in „Favoriten“ überall durch, und trotzdem hat sich Beckermann entschieden, keinen Problemfilm daraus zu inszenieren. Die Arbeit von Ilkay Idiskut wird erschwert dadurch, dass kaum eins der Kinder in ihrer Klasse wirklich fehlerfreies Deutsch spricht. Ihre Familien stammen aus unterschiedlichsten Ländern und Kulturkreisen – aus Syrien, Serbien, Rumänien, Mazedonien und natürlich der Türkei. Viele von ihnen sind erst in den jüngeren Jahren mit Kriegserfahrungen nach Österreich gekommen. Einmal kommt eine neue Schülerin hinzu, die noch kein Wort Deutsch versteht – und was für den Unterricht auf den ersten Blick als schier unüberwindbares Hindernis erscheinen mag, entpuppt sich im Verlauf des Films schlicht als Alltag.
Überhaupt ist das die größte Stärke von Beckermanns Film: dass er uns so vieles in so großer Beiläufigkeit mitgibt. Die Probleme, mit denen die Lehrer*innen an der unterfinanzierten und personell unterbesetzten Schule tagtäglich konfrontiert sind, werden in den zwei Kinostunden immer wieder sehr deutlich erkennbar: Anfangs erfahren wir, dass weder die Stelle der Schultherapeutin noch die der Sozialarbeiterin aktuell besetzt werden können, auch die dringenden notwendigen deutschen Sprachkurse können nur sehr sporadisch angeboten werden, und am Ende verabschiedet sich Ilkay Idiskut tränenreich in den Mutterschutz, ohne ihre Klasse direkt einem Nachfolger übergeben zu können. Hier werden skandalöse Systemfehler unübersehbar offen gelegt, ohne diese jedoch gleich zum Mittelpunkt des Films zu machen. Denn dieser will nicht nur bei den Problemen verweilen, sondern zuallererst bei den Menschen, die in dieser fehlerhaften Institution Schule miteinander interagieren und miteinander ihr Bestes tun.
Dass Ilkay Idiskut eine hervorragende Lehrerin ist, darin kann nach diesem schönen und berührenden, manchmal auch traurigen und latent wütenden Film kein Zweifel bestehen. Sie nimmt ihre Schüler*innen ernst, auch in ihren Fragen und hier und da aufgeschnappten Meinungen zum internationalen Kriegsgeschehen, zum Verhältnis der verschiedenen Religionen und nicht zuletzt den Rollen von Männern und Frauen. Und natürlich spielt es hier auch eine Rolle, dass die junge Lehrerin ihren Schüler*innen selbst jeden Tag ein modernes, selbstbewusstes Frauenbild und letztlich ein Musterbeispiel einer geglückten migrantischen Biografie vorlebt.
Einen kleinen formalen Kunstgriff erlaubt sich die ansonsten – auch im direkten Vergleich zu Maria Speths gleichsam herausragendem Schuldokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“ – vergleichsweise strenge Inszenierung, wenn sie den Kindern selbst Kamerahandys in die Hand drückt, mit der Aufgabe, sich selbst zu filmen. So dringen kleine Interviews, in denen sich die Schüler*innen selbst vorstellen, Monologe und hier und da auch mal ein Schnipsel Freizeit in den Film ein. Auch zu Hause, bei ihren Familien, haben die Kinder gefilmt, doch diese Passagen haben es nicht in den fertigen Film geschafft. Aus Gründen der Privatsphäre, so Ruth Beckermann.
Vermutlich ist das eine gute Entscheidung, denn so wahrt „Favoriten“ seinen Fokus auf das Klassenzimmer, das einerseits Schutz- und Übungsraum für das kommende Leben ist, und in das andererseits jeden Tag die ganze Welt und ihre Schwierigkeiten und Probleme mit hineingebracht werden. Nicht alle von den Schüler*innen, die wir hier als offene, neugierige und zumeist auch lernwillige und -begabte Kinder kennenlernen, werden es da draußen schaffen. Vielleicht nicht einmal viele. Diese Erkenntnis schwebt auch stets über allem Geschehen, und wird spätestens bei einer Notenvergabe überdeutlich, wenn der Zwang zum Bewerten und Aussortieren in Kraft tritt und es dem einen oder anderen Kind klar wird, dass es das große Ziel – das Gymnasium – allem Bemühen zum Trotz nicht erreichen wird.
In diesen Momenten ist „Favoriten“ gerade deshalb so bewegend, weil er eine gewisse Ratlosigkeit zulässt. Es ist nicht gut so, wie es ist, wenn Kinderträume bereits in der vierten Klasse zerschlagen werden und die Chancen, die ein jeder nach den vier Grundschuljahren mitnimmt auf den weiteren Lebensweg, sich schon im Alter von zehn Jahren deutlich verringern. Das weiß Ilkay Idiskut, und das weiß auch Ruth Beckermann. „Favoriten“ traut sich, eine Protagonistin zu porträtieren, die mit Empathie und größtem Engagement ihren Beruf ausübt – und die trotzdem an Grenzen stößt, vielen nicht helfen kann und letztlich auch vom System immer wieder allein gelassen wird. Ilkay Idiskut ist eine vorbildliche Lehrerin, und ihr Porträt berührt deshalb so sehr, weil es gleichermaßen die Chancen wie auch die Versäumnisse des gegenwärtigen Schulwesens spürbar macht.
Fazit: Drei Jahre lang hat die große Dokumentaristin Ruth Beckermann eine Grundschulklasse und ihre Lehrerin im verrufenen Wiener Bezirk Favoriten begleitet. Entstanden ist ein so bewegender wie humanistischer Dokumentarfilm, der die Institution Schule mit all ihren Schwächen und Fallstricken kritisch skizziert, ohne dabei das Engagement der zahlreichen Menschen, die in ihm tagtäglich ihr Bestes geben, aus den Augen zu verlieren.
Wir haben „Favoriten“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er in der Sektion Encounters gezeigt wurde.