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    Shikun
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Shikun

    Ein vielschichtiges Panorama der israelischen Gesellschaft

    Von Michael Meyns

    Man mag es kaum glauben, aber „Shikun“, der neue Film des israelischen Regisseurs Amos Gitai, ist tatsächlich komplett vor dem 7. Oktober entstanden und wurde auch nach dem Massaker der Hamas nicht mehr verändert. Erstaunlich ist das deswegen, weil so vieles an dem schwer zu kategorisierenden, experimentellen Film wie eine Reaktion auf das Massaker wirkt, die unterschiedlichen Emotionen einfängt, von Trauer über Wut bis ihn zur Sorge – vor allem bezüglich der Folgen, die eine israelische Reaktion auf die Zukunft des Landes und der Region haben könnte.

    Inspiriert von Eugène Ionescos Theaterstück „Die Nashörner“, das als Klassiker des absurden Theaters gilt, inszeniert Gitai einen losen Reigen von Menschen und Szenen, der keiner klaren Struktur oder Form folgt – und so vielschichtig und verworren wirkt wie die Situation in Israel und dem Nahen Osten selbst.

    In einem brutalistischen Wohnblock in Be’er Sheva bewegen sich unterschiedlichste Vertreter der israelischen Gesellschaft durch lange Gänge, die Passagen eines verlassenen Einkaufszentrums und die verfallenen Decks eines Busbahnhofs. Verbindendes Element – in gewisser Weise die Hauptfigur des Films – ist die französische Schauspielerin Irène Jacob, die mit zunehmender Wut Sequenzen aus Ionescos Stück rezitiert, vermischt mit Gedanken zur Situation Israels. Ihr begegnen Israelis, aber auch Palästinenser, orthodoxe Juden und Migrant*innen aus aller Welt, ein Orchester mit Dudelsackspielern und ein einsamer Saxophonist. Symbolische Nashörner deuten an, wie stur sich zumindest Teile der israelischen Öffentlichkeit – und vor allem der Politik – verhalten.

    Die französische Sängerin Irène Jacob ist das verbindende Element von Amos Gitais assoziativem Bilderreigen © Laura Stevens / Agav Films 2024
    Die französische Sängerin Irène Jacob ist das verbindende Element von Amos Gitais assoziativem Bilderreigen

    1957 wurde Eugène Ionescos „Die Nashörner“ uraufgeführt und schnell als Reflexion über den zunehmenden Totalitarismus interpretiert. Die Nashörner, in die sich nach und nach die meisten Figuren verwandelten, standen symbolisch für das Herdendenken viel zu vieler Menschen, die ihren Führen gedanken- und bedingungslos folgten. Damals spielte Ionesco auf die französische Öffentlichkeit an, die den Verbrechen, die ihr Land in Algerien verübte, passiv zusah. Heute verweist Gitai auf den Versuch der Netanjahu-Regierung, die israelische Verfassung zu verändern und damit ihre Position zu stärken. Doch das ist nur ein Aspekt der israelischen Gegenwart. In Dialogfragmenten verweist Gitai etwa auf Räumungen von Häusern im Westjordanland, aber auch auf die Gentrifizierung in den Städten, auf die seit Jahrzehnten schwelenden Konflikte um Land und Raum sowie auf das Verhältnis zwischen ultraorthodoxen Juden und der Mehrheit der weltoffenen, liberalen Israelis.

    Schauplatz des Ganzen ist ein Shikun, ein Sozialbau in der Stadt Be`er Scheva, die im Süden Israels mitten in der Negev-Wüste liegt. In einem schier endlos langen Gang begegnen sich anfangs die Figuren, stehen sich symbolisch im Weg, weichen einander aus. Mal folgt die fließende Kamera von Eric Gautier diesen Figuren, dann wieder anderen. Mal hört man einen Monolog Irène Jacobs, dann eine Unterhaltung von Architekten. Geredet wird in einem schier babylonischen Sprachgewirr, in dem man neben Hebräisch und Jiddisch auch Arabisch, Englisch und Französisch hören kann. Einwanderer aus der Ukraine kommen ebenso zu Wort wie Holocaust-Überlebende.

    Ein Spiegel der israelischen Gegenwart

    Auf diese Weise entsteht ein Panorama der israelischen Gesellschaft, in der verschiedene Kräfte aufeinander einwirken. Wenn da eine Israelin einen Palästinenser küsst, ist das ebenso Teil der Realität wie eine Unterhaltung zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau: Um das Verhalten der israelischen Armee geht es da, der laut Netanjahu „moralischsten Armee der Welt“ – eine Aussage, die bei vielen Palästinensern nur Hohn auslösen kann. In den besetzten Gebieten der Westbank kämpft diese Armee nämlich einerseits gegen Terrorismus, verübt andererseits aber auch Verbrechen. In ein, zwei Generationen, so die junge Frau in dieser Szene, wird vielleicht gefragt werden: „Wie konntet ihr nur?“

    Noch ist es allerdings nicht so weit. Noch ist die israelische Gesellschaft zu zerrissen, um zu einem wirklichen Frieden zu gelangen. Wie vielen seiner Landsleute Gitai mit dieser Analyse allerdings aus der Seele spricht, mag man aus der Ferne (gerade aus Deutschland) nicht beurteilen. Amos Gitais experimenteller und oft rätselhafter Film wirkt wie ein Spiegel der unterschiedlichen Positionen, die Israels Gegenwart prägen.

    Fazit: Beton und Nashörner: Mit „Shikun“ hat Amos Gitai eine Variation eines absurden Theaterstücks von Eugène Ionesco gedreht – voller Symbole für die Sturheit mancher seiner Landsleute. Dabei erzählt er kleine klassische Geschichte, sondern legt den Film als lose Abfolge von Szenen, Zitaten und Bildern an, die einiges über die Vielschichtigkeit und Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft erzählen.

    Wir haben „Shikun“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er in der Sektion Berlinale Special gezeigt wurde.

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