Völlig losgelöst
Von Susanne GietlAlles begann mit einer großen Idee in einem kleinen Film. In seine 2019 veröffentlichte, 13-minütigen Kurzfilm „Jupiter“ verbindet Regisseur Benjamin Pfohl Science-Fiction-Vorstellungen eines kosmischen Kults mit einer Coming-of-Age-Story. Das Ergebnis kam gut an, „Jupiter“ landete auf der Shortlist des Bafta Student Film Awards und wurde auf mehr als 40 Filmfestivals gezeigt. Auf Basis des Kurzfilms hat Pfohl gemeinsam mit Silvia Wolkan das Drehbuch zu einer Langfilm-Version des Stoffes geschrieben. Entstanden ist mit „Jupiter“ eine visuell wie auch klanglich sphärische Erzählung:
Bilder des Jupiters überlagern sich darin mit leeren Heilsversprechungen, der Sound driftet immer weiter ab in kosmische Gefilde. Trotzdem bleibt die Story wunderbar geerdet, denn Pfohl stellt sich nie über seine Figuren, sondern bleibt ihnen gegenüber empathisch. Auf den 58. Hofer Filmtagen bekam Benjamin Pfohl für sein Langfilmdebüt den Förderpreis Neues Deutsches Kino sowie – u.a. von der Autorin dieser Zeilen, die Teil der dreiköpfigen Jury war – den Hofer Kritiker-Preis für die Beste Regie Fryderyk Świerczyński wurde zudem mit dem Bild-Kunst Förderpreis für das Beste Szenenbild ausgezeichnet.
„Jupiter“ begleitet eine verzweifelte Familie, die in die Fänge eines Kults gerät. Schon früh stößt eine überforderte Familie an ihre Grenzen. Weil sich Sohn Paul (Henry Kofahl) nicht kognitiv weiterentwickelt, testet sie alternative Behandlungsmethoden. Während Tochter Lea (Mariella Aumann) ihren Bruder so akzeptiert, wie er ist, suchen die Eltern Barbara (grandios: Laura Tonke) und Thomas (Andreas Döhler) weiterhin nach einer passenden Therapie. In einem kosmischen Kult finden sie nicht nur die Antwort auf ihre Probleme, sondern auch gleich noch auf den Klimawandel. Am Ende muss sich Lea entscheiden, ob sie sich dem neuen Pfad ihrer Eltern anschließt oder lieber ihren eigenen Weg geht…
Lea als kritische Stimme einzuführen, ist schlau. Durch sie lernt man nicht nur ihre Eltern besser kennen, sondern auch die Praktiken, denen sich ein Kult bedient. Nebenbei wird sie mit all ihrer Verletzlichkeit als typische Teenagerin gezeigt. Als „Mädchen vom Jupiter“ wird sie in der Schule verspottet, zu Hause entspricht das der (gewählten) Realität ihrer Eltern. Gekonnt wechselt Benjamin Pfohl zwischen dem Unort, den ihre Eltern für sie ausgewählt haben, den freundlichen Menschen, denen sie im Jupiter-Camp begegnet, sowie ihrem eigenen freien, aber eben auch nicht immer glücklichen Leben. Die Sprünge suggerieren Leas Zerrissenheit.
Während sich die Mitglieder des Kults Stufe für Stufe darauf vorbereiten, dass der Komet Calypso der Erde so nahekommt, dass er sie auf den größten Planet des Sonnensystems mitnehmen kann, ist Lea Teil des Prozesses, obwohl sie nicht daran glaubt. Für sie zählt das Hier und Jetzt, der nächste Schultest, ihre Freund*innen oder die nächste Party. Als sie versteht, dass ihre Mutter nichts sehnlicher möchte, als dem Kult zu glauben, konfrontiert sie ihren Vater mit seiner Denkweise. Selbst wenn sie auf dem Jupiter ankommen würden, wisse doch selbst der Guru des Kults nicht, was sie erwarte.
Mariella Aumann („Dark“) verkörpert glaubhaft eine starke Persönlichkeit, die als Kind schon erwachsene Entscheidungen treffen muss. Henry Kofahl ist als Filmkind durch seine Bewegungsmuster und Verhaltensweisen an- und abwesend zugleich, was man ihm jederzeit abnimmt. Laura Tonke begegnet ihrer Filmtochter mit großer Naivität und Mutterliebe, trotzdem nimmt man ihr ihre verantwortungsvolle Rolle ab. Andreas Döhler spielt den Gegenpol zur Mutter. Er geht Konflikten gerne aus dem Weg und tendiert zu Kompromissen.
Ein Countdown bildet die Klammer des Filmes. Die Stimme des Gurus Wolf (Ulrich Matthes) hört man ganz am Anfang, wo er von zehn herunterzählt. Man sieht ihn nicht. Stattdessen ist die Leinwand in Nebel getaucht – erst später wird man verstehen, dass es interstellare Wolken sind, die den Jupiter umgeben. Die von Lukas Väth kreierten kosmischen Bilder strahlen eine seltsame Ruhe aus. Wie eine Brücke fungieren sie zwischen den Welten und Figuren. Beeindruckend ist die von Gary Hirche kreierte Klangwelt, die gemeinsam mit den Bildern des Jupiters eine weitere Ebene schafft. Mal beruhigend, dann unterschwellig bedrohlich changiert Hirches Komposition, als wäre sie ein weiterer Charakter des Filmes.
Die Bilder, die Kameramann Tim Kuhn im Bayerischen Wald, einfängt, wirken merkwürdig. Menschen stehen auf riesigen moosbewachsenen Steinen vor toten Bäumen. Sie tragen VR-Brillen und starren regungslos nach vorn. Szenenbildner Fryderyk Świerczyński und sein Team bauten für „Jupiter“ eine Art Radarkuppel und eine Maschine aus vielen Schläuchen und Behältern, die später zum Einsatz kommt. Der Countdown läuft: „Drei. Wir lassen es zu. Zwei. Wir sind stark. Eins. Wir sind frei. Take off.“ Aber trotz der Träume von fernen Planeten fühlt sich der Film verdammt real und schmerzhaft geerdet an.
Fazit: In „Jupiter“ macht Regisseur Benjamin Pfohl visuell wie auch musikalisch das Ungreifbare erlebbar. Durch die Perspektive des Mädchens bleibt man nah an den Charakteren, wodurch die Geschichte wunderbar geerdet wirkt. Selten war ein Werk so sphärisch wie aktuell.
Wir haben „Jupiter“ im Rahmen der 58. Hofer Filmtage gesehen.