Wim Wenders bester Spielfilm seit 30 Jahren!
Von Michael Meyns„Was vergangen ist, ist vergangen, jetzt ist jetzt“, erklärt der Toilettenreiniger Hirayama, Protagonist und noch mehr emotionales Zentrum von „Perfect Days“, seiner Nichte – und bringt damit zugleich das Mantra eines Films auf den Punkt, der lange Zeit fast ohne Worte auskommt. Der deutsche Meisterregisseur Wim Wenders („Der Himmel über Berlin“) beobachtet auf fast dokumentarische Weise eine Mann, der in Tokyo öffentliche Toiletten putzt, ein bescheidenes (viele würden sicher sagen: ärmliches) Leben führt, aber dabei glücklich und zufrieden ist. Erst wenn im letzten Drittel die Dinge, die vorher unausgesprochen blieben, in Worte gefasst werden, sich „Perfect Days“ zu kleinen dramatischen Zuspitzungen genötigt sieht, verliert der Film ein wenig von seiner Magie. Trotzdem bleibt es Wim Wenders bester Spielfilm seit gut drei Jahrzehnten – vielleicht ja auch deshalb, weil er sich diesmal so nah an der dokumentarischen Form bewegt.
Tagein, tagaus geht Hirayama (Kôji Yakusho) schon früh morgens seiner Arbeit nach: Er ist bei The Tokyo Toilet angestellt und putzt die Toiletten im zentralen Stadtbezirk Shibuya. Dabei geht er mit größter Ruhe und Akribie vor, dreht jeden Tag dieselbe Runde, isst im selben Park sein Mittagessen, betrachtet in kurzen Pausen die Schattenspiele der Blätter in den Bäumen, liest abends Romane und wirkt, als sei er voll und ganz mit sich und seinem Leben im Reinen. Wenige Worte macht dieser Mann, sein junger Kollege Takashi (Tokio Emoto) ist da ganz anders, er plappert, wo Hirayama mit Gesten kommuniziert. Erst als Hirayamas Nichte Niko (Arisa Nakano) in seiner kleinen Wohnung auftaucht, offenbar nicht zum ersten Mal von zu Hause weggelaufen, zeigt sich, dass dieser freiwillige Eremit auch eine Familie hat, von der er sich jedoch bewusst fernhält…
Sagt nicht fiel, und ist doch absolut liebenswürdig und charmant: Kôji Yakusho als Toilettenreiniger Hirayama.
Wie einen Stummfilm inszeniert Wim Wenders die ersten Minuten seines Spielfilms „Perfect Days“, beobachtet dabei minutiös den Tag seiner Hauptfigur Hirayama: Aufstehen, Zähne putzen, zur Arbeit fahren, die (aus deutscher Perspektiv erstaunlich reinlichen) öffentlichen Toiletten in Tokyo putzen, im Park Mittagessen, mit einer alten Kamera immer wieder Fotos scheinbar banaler Dinge schießen, sich nach der Arbeit in der Badeanstalt waschen, abends Ramen-Nudelsuppe essen, dabei ein bisschen Baseball schauen, im Bett noch etwas lesen, schlafen und dann geht das Ganze wieder von vorne los. Während des ersten Tages, den man mit diesem Mann verbringt, der Mitte 60 ist, aber viel jugendlicher wirkt, sagt Hirayama kaum ein Wort. Er ist nicht unfreundlich, aber wenn es nichts zu sagen gibt, dann sagt er auch nichts.
Dass diese Passage fast genauso in einem Dokumentarfilm auftauchen könnte, ist kein Zufall. Der ursprüngliche Ausgangspunkt des Projekts war schließlich eine Anfrage der Verantwortlichen von The Tokyo Toilet, die Wim Wenders baten, eine kurze Dokumentation über eine Reihe neuer Toilettenhäuschen zu drehen, die im bekannten Stadtviertel Shibuya (dort befindet sich zum Beispiel die berühmte Kreuzung mit in alle Richtungen abgehenden Zebrastreifen, die Tausende Fußgänger*innen gleichzeitig überqueren) aufgestellt wurden. Kleine architektonische Perlen sind das, teils aus Holz gebaut, teils aus markantem, futuristischem Beton – und dass sie nun auch im Film zu sehen sind, macht „Perfect Days“ durchaus auch zu einer Topographie der Toilettenhäuschen Tokyos. Denn öffentliche WCs in Japan sind nicht einfach schnöde Klos mit banaler Wasserspülung, sondern im besten Fall High-Tech-Geräte mit heizbaren Sitzen und eingebautem Bidet mit regulierbarer Wassertemperatur (sowie zunächst durchsichtigen Wänden, die erst mit dem Abschließen der Tür undurchsichtig werden).
Da Wenders während der aufwändigen Postproduktion seines in 3D gedrehten Dokumentarfilms „Anselm“ aber ohnehin ein paar Monate Zeit hatte, wurde der geplante Dokumentarfilm schließlich zu einem Spielfilm weiterentwickelt: In nur zwei Wochen schrieb Wenders zusammen mit Takuma Takasaki das Drehbuch und fand in Kôji Yakusho – dem westlichen Publikum vor allem aus „Die Geisha“ bekannt – seinen idealen Hauptdarsteller. Gedreht wurde im klassischen 4:3-Format, das zum einen dem Format der altmodischen analogen Kleinbildkamera mit 35mm-Film entspricht, mit der Hirayama seine Fotos macht, zum anderen war es das Format, in dem auch schon der legendäre Yasujirō Ozu seine Filme gedreht hat. Ozu wiederum ist für Wenders so wichtig, dass er 1985 den Dokumentarfilm „Tokyo-Ga“ drehte, in dem er sich auf die Spuren des japanischen Großmeisters begab.
Während „Perfect Days“ mag man nun ein ums andere Mal an Ozu denken, schließlich erscheint Hirayama gar wie eine typische Ozu-Figur: Ein einfacher Mann, der mit sich und seinem Leben zufrieden ist, auch wenn an sich nichts vordergründig Aufregendes geschieht. Stattdessen findet Hirayama die Schönheit im Alltäglichen, beobachtet die Schattenspiele der Blätter, findet im Park einen kleinen Setzling, hört auf Musikkassetten Lou Reed, Van Morrisson oder Patti Smith. Wunderbar anzusehen ist das, ein Blick ins Leben eines glücklichen Menschen, der sich durch die verwirrenden Labyrinthe der Tokioer Autobahnen, die sich teilweise in drei Etagen ihren Weg durch die Hochhäuser bahnen, manövriert.
So könnte es ruhig ewig weitergeht, aber so funktioniert das eben nicht in einem zweistündigen Spielfilm. Zumindest hatte Wim Wenders offenbar das Gefühl, die Psyche seiner Hauptfigur doch noch ein wenig erklären zu müssen. Im letzten Drittel von „Perfect Days“ wird daher auf einmal viel geredet. Außerdem taucht Hirayamas Schwester Keiko (Yumi Aso) auf, deren teures Auto überdeutlich den Kontrast der unterschiedlichen Leben der entfremdeten Geschwister andeutet. Ein bisschen Schade ist es, dass Wenders hier nicht mehr so sehr seinen Bildern vertraut, seinem Gespür für Atmosphäre, für den kommentierenden Einsatz der Songs aus den 60er oder 70er Jahren, die sich durch den Film ziehen.
Ein konventionellerer Film wird „Perfect Days“ hier, was jedoch nichts daran ändert, dass Wenders nach Jahren eher schwächerer Spielfilme („Every Thing Will Be Fine“, „Grenzenlos“) seinen seit langem besten Spielfilm vorgelegt hat. Der ist dann auch immer dann am besten, wenn er sich nah am Dokumentarischen bewegt, also jenem Bereich, in dem Wenders in den letzten Jahrzehnten mit Filmen wie „Pina“, „Das Salz der Erde“ und nun auch „Anselm“ vor allem überzeugen konnte.
Fazit: Wim Wenders bester Spielfilm seit drei Jahrzehnten ist ironischerweise spontan aus einem Dokumentarfilmprojekt heraus entstanden. „Perfect Days“ erzählt von einem Mann, der in Tokyo Toiletten putzt, bei der redundanten Tätigkeit aber absolut in sich selbst ruht – und so mit einigen Ausnahmen tatsächlich einen perfekten Tag nach dem anderen erlebt. Ansteckend Zen-artig.
Wir haben „Perfect Days“ beim Cannes Filmfestival 2023 gesehen, wo er in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.