Mein Konto
    One in a Million
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    One in a Million

    Eine YouTuberin und ihr größter Fan

    Von Kamil Moll

    Ein junges Mädchen im US-Bundesstaat Georgia spricht in die Kamera, während sich ihr Blick immer wieder zum Handy senkt: „Es ist Sonntagmorgen und ich habe 999.970 Abonnenten auf YouTube.“ Sie ist früher aufgestanden und wartet aufgeregt, dass die Zahl der Follower ihres Channels die magische Eine-Millionen-Marke überschreitet. Ein etwa gleichaltriges Mädchen in Deutschland liegt im Halbdunkel auf einem Sofa und schaut ihr auf ihrem Handydisplay dabei zu. So beginnt der Dokumentarfilm „One In A Million“ von Joya Thome.

    Was macht Whitney zu einer unter Millionen? Mit sechs Jahren beginnt sie mit dem Turntraining an Balken und Barren, mit sieben nimmt sie an Wettkämpfen teil, die ihr Vater mit der Kamera dokumentiert und für einen zu Beginn eher familiären Kreis bei YouTube hochlädt. Als eines der Videos mit 19 Millionen Views viral geht, wird der Channel ambitionierter und großformatiger: Die Aufnahmen zeigen, wie ein Mädchen mit Erwartungen und Druck umgeht, mit Enttäuschungen und Verletzungen – eine Identifikations- und Projektionsfläche für viele, nicht zuletzt auch im Umfeld ihrer Turnmannschaft selbst. Die Videos werden zur Haupteinnahmequelle der Familie, Whitneys Vater erzählt: „Sie hätte nicht weiterturnen können ohne dieses Geld.“ Am Anfang von „One In A Million“ ist Whitney 14 Jahre alt.

    Was macht Yara zu einer unter Millionen? Sie ist einige Monate jünger, ruhiger und introvertierter. Wenn es um die Schule geht, erzählt sie davon, wie sie Angst hat, sich zu melden, dem Gefühl, es würde jeder sehen, wie sie dabei rot wird. Spricht sie aber über Whitneys Videos, hört man heraus, wie viel Selbstbewusstsein sie ihr schenken. Yara hat einen Fan-Channel, sie bearbeitet Bilder von Whitney und verdoppelt sie in Fotos, als hätte diese einen Zwilling, den Yara Britney nennt. Mit den beiden erzählt sie Bildergeschichten. Whitney sagt über Yara und ihren Channel: „Sie sticht heraus, weil er anders ist.

    Während Turn-Teenagerin Whitney weiter Fans für ihren YouTube-Kanal sammelt ...

    Sich voller Neugier und Aufmerksamkeit dem sich weitenden Erfahrungs- und Empfindungshorizont von Kindern und Jugendlichen zu nähern, das beherrscht im deutschen Kino momentan niemand visuell behutsamer als die Filmemacherin Joya Thome. Das zeigte sich bereits eindrücklich in ihrem meisterlichen Spielfilmdebüt „Königin von Niendorf“. Mit einem Budget von gerade mal 20.000 Euro, gedreht auf dem Bauernhof ihres berühmten Regie-Vaters Rudolf Thome, erzählt die Regisseurin von einer Kindheit in der brandenburgischen Provinz: Durch einfühlsam eingefangene Stimmungen und nicht durch das Sichtbarmachen einer klaren dramaturgischen Entwicklung schwelgt der Film in sich ausdehnenden Momente kindlicher Langeweile und melancholischer Versunkenheit.

    Die Kamera schwebt dabei auf dem Sattel eines Kinderfahrrads durch die Dämmerung und fängt die verlorenen, kaum greifbaren Gedanken, die über das Gesicht der wundervollen Hauptdarstellerin Lisa Moell huschen, ein. Auch ihr zweiter Film, die Realfilmadaption der Zeichentrickfilmreihe „Lauras Stern“, setzte Joya Thomes trotz des ungleich höheren Budgets mit großer visueller Vorstellungsraft um: Wenn das fantastische 80er-Jahre-Kinder- und Jugendkino von Steven Spielbergs Produktionsfirma Amblin heutzutage irgendwo eine zeitgenössische Form jenseits von Retro-Seligkeit findet, dann in diesem Versprechen für das deutschsprachige Kinderfilmkino.

    Durchhalten während der Pandemie

    Bildern zu vertrauen, sie eigenmächtig erzählen zu lassen, ohne etwas erklären zu wollen, das ist auch die große, schnell einnehmende Stärke von „One In A Million“. In der eher impressionistischen Bildersprache, der momenthaften, nur durch sorgfältig gewählte Off-Kommentare ergänzten Erzählweise erweist sich Joya Thome somit nach zwei Spielfilmen auch als eine originelle und sehr formbewusste Dokumentarfilmregisseurin. Souverän bewältigt sie dabei auch die Widrigkeiten eines Langzeitfilmdrehs während der Pandemie. Durch eine nahezu zwei Jahre währende Drehpause aufgrund der Einreisebestimmungen in die USA macht der Film mittendrin einen Sprung, den Thome zunächst bewusst nicht näher erläutert und der sich erst während der folgenden Szenen von selbst erklärt:

    Mit 16 Jahren sind die Probleme der beiden Mädchen nun andere. Whitney hadert mit den Anforderungen, die das tägliche Training mit sich bringt; sie spricht darüber, dass sie durch eine schwerwiegendere Verletzung permanent Schmerztabletten nehmen muss; und sie gerät mit ihrem Vater in ein Gespräch darüber, wer letztlich entscheiden darf, was von ihrem Leben in die Videos darf und was sie lieber für sich selbst behalten möchte. Zunehmend wichtiger wird für sie das Schreiben und Aufnehmen von Songs, in denen sie über Einsamkeit und die Angst vor Zurückweisung singt – Aufnahmen dieser Lieder collagiert Thome dabei immer wieder mit Film- und YouTube-Videoszenen, als sei es ein Musikvideo. Yara wiederum merkt, dass sie lesbisch ist, outet sich zunächst bei ihren Freund*innen und einige Monate später bei ihrer Familie.

    ... tankt ihr größter Fan Yara in Deutschland Selbstbewusstsein durch das Anschauen von Whitneys Videos.

    Wie es ist, von vielen bewundert zu werden, und wie es ist, jemanden mit vielen anderen zu bewundern, davon erzählt „One In A Million“ unaufdringlich und mit einem Blick, der bis zuletzt neugierig und offen für die Gefühle der Mädchen bleibt. Dass die beiden Protagonistinnen im Rahmen der Arbeit für den Film schließlich auch persönlich kennenlernen, deutet Thome nur nebenbei an, so als sei es eine andere Geschichte für einen anderen Film: Damit entscheidet sich die Regisseurin dagegen, einen dramaturgischen Höhepunkt zu forcieren. Am Ende verabschiedet sich Yara auf ihrem Fan-Channel, die Abitur-Zeit naht und sie ist verliebt – ihre Gedanken sind nun woanders. Was als nächstes passieren wird, geht nur noch sie etwas an.

    Fazit: Mit „One In A Million“ gelingt Joya Thome nach zwei herausragenden Spielfilmen ein dokumentarisches Porträt zweier Mädchen, dessen behutsame und unaufdringliche Bild- und Erzählsprache ein weiterer Beweis dafür sind, dass sie zu den größten Hoffnungsträgerinnen des aktuellen deutschen (Kinder-)Kinos gehört.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top