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    No Bears
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    No Bears

    Das Meisterwerk eines Grenzgängers

    Von Janick Nolting

    Jafar Panahis Filme sind nicht einfach nur Dokumente ihrer Umstände, in denen sie entstehen. Sie befinden sich in einem permanenten Konflikt mit ihnen. Immer wieder hat der iranische Regisseur mit Zensur und Repressionen eines politischen Systems zu kämpfen, dem seine kritischen Filme ein Dorn im Auge sind. (Reise-)Verbote und Hausarrest waren die Folge. Sein Werk „Dies ist kein Film” wurde etwa einst aus dem Lande geschmuggelt, indem man den USB-Stick in einem Kuchen versteckte.

    Inzwischen sitzt Jafar Panahi in einem Teheraner Gefängnis. Bereits 2010 wurde er wegen Propaganda-Vorwürfen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Sein vorher noch abgedrehter, mittlerweile 24. Film feierte in Abwesenheit des Regisseurs Premiere beim Filmfest in Venedig. In „No Bears” wagt sich Panahi dabei erneut selbstreflexiv in die Grenzbereiche von Fiktion und Dokumentation.

    Niemand sonst spielt so genial mit Fiktion und Wirklichkeit

    Schon die erste Szene ist ein einziger Twist: Langsam schweift die Kamera über den öffentlichen Raum. Menschen sitzen in einer Kneipe, Straßenmusiker sammeln Geld. Mittendrin erscheint ein Paar, Zara (Mina Kavani) und Sinan (Sinan Yusufoglu). Als ihr Disput über eine geplante Flucht nach Frankreich an Fahrt aufnimmt, meldet sich plötzlich eine andere Stimme zu Wort. Die Kamera zieht zurück und schon sind wir an einem anderen Ort. Alles nur ein Filmdreh. Aber der Zoom geht noch weiter – und plötzlich sehen wir, dass der Regisseur gar nicht selbst vor Ort ist, er dirigiert stattdessen aus der Ferne, ist über seinen Laptop zugeschaltet.

    Jafar Panahi spielt einen Regisseur namens Jafar Panahi. Aus Teheran hat er sich in die Provinz zurückgezogen, unweit der iranisch-türkischen Grenze. Während er versucht, mit gewissen Tricks seine Arbeit als Filmemacher fortzusetzen, schießt er Fotos in der Gegend und sorgt damit für einen (weiteren) Skandal. Ein verbotenes Liebespaar soll er abgelichtet haben. Schon bald steht das ganze Dorf Kopf und fordert die Herausgabe. Es geht um die Ehre, die der Fremde mit seinen Dokumentationen in Gefahr bringt, und die will man nun mit allen Mitteln wiederherstellen.

    Ein Fremder in der Provinz

    „No Bear” ist ein neuer Höhepunkt im Oeuvre des Regisseurs. Panahi muss sich dafür gar nicht neu erfinden. Wieder verhandelt er das Spannungsverhältnis einer nach Freiheit strebenden Kunst und ihren auferlegten Zwängen. Seine autobiographischen Erfahrungen und die Entstehungsbedingungen seines Werkes sind zentraler Erzählgegenstand. Und doch läuft Panahi noch einmal zu neuer Höchstform und Differenzierung in dem filmisch adaptierten Konflikt auf, den der Künstler in seinem Heimatland auszutragen hat. „No Bears” denkt die Meta-Werke eines der wahrscheinlich wichtigsten Filmemacher der Gegenwart weiter und konstruiert zugleich eine vielschichtige Gesellschaftsparabel. Man muss den Hintergrund des Regisseurs auch gar nicht unbedingt kennen, um von diesem Meisterwerk fasziniert zu sein.

    Zunächst einmal hat Panahi einen Film über den Einbruch des Fremden in eine geschlossene, nur augenscheinlich unerschütterliche Gemeinschaft gedreht, verkörpert durch die eigene Person. Film und Fotografie sind da nur Mittel und Zweck, um gleichermaßen von der Macht wie der Verantwortung zu erzählen, die ihren medialen Praktiken innewohnen. Ein simpler Schnappschuss reicht da aus, um die Ordnung durcheinanderzubringen. Panahi, dem Distanzierten, ist es erlaubt, über einen unverstellten Blick von außen auf diesen Mikrokosmos zu schauen. Plötzlich fühlt man sich durch ein Foto gegenüber der Welt entblößt. Es könnte ja jemand bemerken, wie skurril das ganze Miteinander mit all seinen schrägen Traditionen abläuft.

    Jafar Panahi fährt in einem Auto, das wegen seiner Verurteilungen natürlich auf einen anderen Namen zugelassen ist.

    Das Schaffen von Abbildern bedeutet auch die Angst vor Kontrollverlust. Dabei spielt gar keine Rolle, ob jenes Foto, das nun für so viel Konflikt sorgt, überhaupt existiert. Jafar Panahi soll trotzdem schwören, sich den Gepflogenheiten beugen, was in immer absurderen Konfrontationen gipfelt. Panahi erzählt damit letztlich von einem beklemmenden gesellschaftlichen Stillstand, einer panischen Ablehnung von Veränderungen. In der Stadt hat man Probleme mit Autoritäten, im Dorf mit Aberglaube, heißt es einmal sinngemäß im Film.

    Bären sollen da ihr Unwesen treiben – bloße Schauermärchen, um geordnete Bahnen nicht verlassen und neue Wege nicht beschreiten zu müssen. Panahi inszeniert das mit einem gewissen Augenzwinkern, ohne dafür seine Figuren ins Lächerliche zu verzerren. Sein Humor ist untrennbar mit der die zähe Alternativlosigkeit dieser Welt bedauernden Melancholie verbunden.

    Geteilte Blicke auf die Welt

    „No Bears“ ist kein laut schreiendes aktivistisches Werk. Seine Subversion entsteht aus einer äußerst zerbrechlichen, ruhigen Selbstbespiegelung. Sie sinniert über die Moral ihrer Bilder. Wie steht es denn um die Rechte der Einzelnen, sich der medialen Fixierung nicht aussetzen zu müssen? Wann ist der richtige Zeitpunkt, um die Kamera draufzuhalten? In dem Handlungsstrang von Sinan und Zara, mit dem der Film eröffnet, wird es irgendwann zu einer tödlichen Katastrophe kommen. Der rettende ‚Cut!‘-Ruf verhindert da in letzter Sekunde eine mediale Ausbeutung des schrecklichen Leids.

    Wie schafft man Kunst, die daran interessiert ist, die Gesellschaft umzukrempeln, wenn die Menschen an einer Veränderung gar nicht interessiert sind? Zu dieser zentralen Frage kehrt „No Bears“ immer wieder zurück und verzweifelt dabei leise und bedächtig an der Welt. Es kann für diese Art der Erkundung nur einen Schritt geben, den Panahi erneut konsequent vollzieht: die Aufhebung einer vermeintlichen Opposition von Spiel- und Dokumentarfilm. Panahi hat schon mehrfach beeindruckende Wege gefunden, den künstlerischen Produktionsprozess in einem repressiven System offenzulegen. Etwa im Schaffen von imaginären Bildern wie in „Dies ist kein Film“ oder dem Einsatz einer Auto-Dashcam in „Taxi Teheran“.

    Mit „No Bears” ringt er diesen Notwendigkeiten eine weitere spannende Facette ab, nämlich die der Stellvertreterschaft, wenn diejenigen, die Filme oder Fotos verantworten, gar nicht oder zumindest nur mittelbar Video-Call beim Dreh oder Shoot dabei sind. Blicke werden hier aufgespalten, an andere Orte verlagert und wieder zusammengesetzt. Fortlaufend zweifelt man an der Zuverlässigkeit dieser Perspektiven, auf die man aber vertrauen muss, um die eigene Vision zu verwirklichen. Das Hier und Jetzt der Produktion fällt auseinander. „No Bears” gelingt es dabei nicht vollends, seine zwei räumlich distanziert stattfindenden Handlungsstränge und Liebesgeschichten mit derselben Eindringlichkeit zusammenzuführen. Was Jafar Panahi mit der örtlichen Dorfbevölkerung erlebt, nimmt einen bedeutend prominenteren Platz ein. Doch man verzeiht es ihm leicht, da es sich ohnehin um den eigentlichen Kern seines Dramas handelt.

    Spannende Ortsbegehung

    Allein die räumliche Erkundung inszeniert Panahi auf formal bestechende Weise. „No Bears” arbeitet mit langen Kameraeinstellungen, die mit wohlüberlegter Präzision und Kontrolle ihre Bewegungen vollziehen. Ein einnehmendes, hypnotisches Werk ist dabei herausgekommen. Es zeigt seine Dialoge im Dorf wie auf einer Theaterbühne. Es blickt auf staubige Landschaften, die man mit dem Auto durchkämmt. Und es führt an die unsichtbare, gefährliche Grenze im nächtlichen Mondschein.

    Damit gemeint ist die Grenze im territorialen, aber auch im symbolischen Sinne. Auf diese Überlagerung arbeitet Panahi Schritt für Schritt hin. Es ist ein Vorantasten, wie weit man sich an sie heranwagen kann, wie sie sich vielleicht doch noch überschreiten lässt, auch im gedanklichen und künstlerischen Sinne. Irgendwann kehren zwei blutüberströmte Tote von dort zurück. Sie sind in der Landschaft drapiert wie ein Mahnmal. Nicht weit entfernt fährt jemand rastlos umher, unsicher, wohin es als nächstes gehen soll. „No Bears” endet mit dem lauten Geräusch einer angezogenen Handbremse. Ein zumindest akustisch brutaler Stopp. So kann es nicht weitergehen.

    Fazit: Jafar Panahi hat vor seiner aktuellen Inhaftierung mit „No Bears” noch einen weiteren packenden, formal clever konzipierten Film über gesellschaftlichen Stillstand gedreht, der auf eindrucksvolle Weise über die Möglichkeiten und Gefahren seiner eigenen Bilder nachdenkt.

    Wir haben „No Bears“ beim Filmfest in Venedig gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.

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