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    Irrlicht
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Irrlicht

    Manchmal sollten Filme einfach flackern und vergehen

    Von Lucas Barwenczik

    Gerade im Arthouse-Segment gibt es viele Regisseur*innen, die ihre Filme dem Publikum wie Felsbrocken entgegenschleudern. Alles muss Gewicht haben, am besten erschlagen und überwältigen. João Pedro Rodrigues ist anders. Das Kino des Portugiesen ist verspielt, gewitzt, faunisch und immer ein wenig aufgekratzt. Es begleitet Figuren bei Verwandlungen und auf verworrenen Odysseen zwischen Mythologie und Wirklichkeit. Sechs Jahre nach seinem letzten Film kehrt der Regisseur von queeren Abenteuergeschichten wie „Das Phantom“ und „Der Ornithologe“ mit einer „musikalischen Fantasie“ zurück. „Irrlicht“ ist so, wie es sein Titel verspricht, ein wundervoll luftiger, flüchtiger Film. Eine Musical-Miniatur über Liebe, Klimawandel, Kunst, Kolonialismus, Macht und Rebellion.

    Die Geschichte beginnt im Jahr 2069: König Alfredo von Portugal (im Alter: Joel Branco, davor: Mauro Costa) liegt im Sterben. Der Film wirft nun Schlaglichter auf sein Leben. Als kindlicher Prinz lernt er 2011 von seinem Vater wie wichtig es ist, die Wälder der Nation zu schützen. Im Jahr 2017 muss er dann mitansehen, wie Brände nach einer Hitzewelle die iberische Halbinsel verwüsten. Er beschließt, Feuerwehrmann zu werden, doch unter den Kollegen findet er als adeliger Kunststudent nicht sofort Anschluss. Während der Ausbildung verliebt er sich in den schwarzen Feuerwehrmann Afonso (André Cabral). Ihre Beziehung wird immer enger, doch ein Prinz entkommt seinem Schicksal nicht. Alfredo wird zurück zu Hofe berufen, und das junge Liebespaar wird jäh auseinandergerissen…

    Prinz Alfredo (Mauro Cost) will kein König mehr sein – sondern als Feuerwehrmann wirklich etwas bewegen.

    Mit gerade einmal 67 Minuten Laufzeit verliert sich „Irrlicht“ nicht an aufwändige Plot-Konstruktionen. Der mittellange Film zerfällt in Vignetten, in viele kleine Nummern, wie bei einer musikalischen Revue. Unvollständig und fadenscheinig heißt in diesem Fall: offen für Neues! Keine gestalterische Idee folgt zwangsläufig oder auch nur logisch auf die nächste, die verschiedenen Figuren bevölkern nicht immer dasselbe Erzähluniversum. Ernstes wird als Scherz und Witze mit einer gewissen Feierlichkeit vorgetragen. Was dennoch alles zusammenbringt, ist ein gewisser anarchischer Geist. Alles passt so schlecht, dass es genau am richtigen Platz ist.

    Die Gesangs- und Tanzeinlagen sind nicht immer perfekt, dafür aber mit Inbrunst vorgetragen. Hinter Bäumen ploppen Kinder auf und singen über königliche Kiefern. Dass es nicht einfach um stramme, saftige Stämme geht, wird dabei schnell deutlich. Das Training bei der Feuerwehr wird mit den lieblichen Klängen von Mozarts „Zauberflöte“ unterlegt. Die gestählten Männerkörper vollführen plötzlich ein Ballett zwischen Rutschstangen und Steigleitern – eine Szene, die an Claire Denis modernen Klassiker „Der Fremdenlegionär“ erinnert. Auch Julia Ducournaus hypermaskuline Brandschützer aus „Titane“ sind Artverwandte. „Irrlicht“ ist die Art von Kinoerfahrung, die man immer wieder mit anderen Filmen vergleichen will, weil sie so einzigartig ist. Jeder Bezug ist ein Ankerpunkt im Vertrauten.

    Kunstgeschichtliche Blowjobs

    Auch die Kunstgeschichte wird immer wieder herangezogen. Viele der Bilder sind komponiert wie bekannte Gemälde, der ganze Film ist außerordentlich künstlich und symmetrisch. Um die meisten Einstellungen könnte man sich mühelos einen verschnörkelten Goldrahmen denken. In einer wundervollen Sequenz wollen die Feuerwehrleute vorgeblich das Kunstwissen ihres neuen Rekruten abfragen. Mit ihren nackten Körpern stellen sie in der Männerumkleide vermeintlich bekannte Gemälde nach, die sich in ihren Erklärungen dann als Caravaggios „Blowjob des Feuerwehrmanns“ (erfunden) oder Velázquez‘ „Zwerg, auf dem Boden sitzend“ (real) herausstellen. Kleinwüchsige tauchen auch auf einem anderen Gemälde auf, das Teil der Handlung ist. Es stammt von dem wenig bekannten portugiesischen Hofmaler José Conrado Roza und heißt „Die Hochzeitsmaskerade“. Die darin dargestellten Figuren offenbaren schonungslos rassistische Vorurteile der portugiesischen Kolonialzeit. Auch dieses Erbe will Alfredo nicht antreten. „Irrlicht“ ist ein Film mit einer klaren Verweigerungshaltung, der lustvoll den Status Quo verneint.

    Die uneinheitliche Form des Films erzählt eben auch von einem Land in der Krise. Portugal ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts kein Königreich mehr; die fiktiven Monarchen, die Rodrigues erfindet, sind deshalb wohl auch als Symbol für die Seele einer Nation zu lesen. Die Waldbrände haben sich 2017 wirklich ereignet. Die Wutrede, die Alfredo seiner Familie hält, übernimmt Zitate von Greta Thunberg. Als Gen-Z-Figur steht er irgendwo zwischen einer apokalyptischen Zukunft und einer Vergangenheit, die nur noch als Sünde verstanden werden kann.

    Die Gesangs- und Tanzeinlagen sind nicht immer perfekt, dafür aber mit Inbrunst vorgetragen.

    „Irrlicht“ ist eine Geschichte von junger Liebe und junger Rebellion. Beide Scheitern wahrscheinlich, wie die kurzen Sequenzen im Jahr 2069 verdeutlichen. Auch wenn er andere inspiriert zu haben scheint, neben seiner Leiche spielt schließlich ein kleiner Junge mit einem Spielzeug-Feuerwehrauto, ist Alfredo am Ende eben doch König. Mitschuldig, Teil der verhassten Traditionen. Aber Kunst war schon immer gut darin, genau die kurzen Augenblicke einzufangen, in denen das Unmögliche möglich erscheint.

    Das mythologische Irrlicht ist meist ein düsteres Omen, doch Rodrigues scheint es eher um seine Vergänglichkeit zu gehen. Was irrlichtert, taucht kurz auf und verschwindet wieder. Der Film wirkt wie ein kleines, hingetupftes Zwischenwerk. Eine Fingerübung. Oft urteilt man so über ein Kunstwerk, um es abzuwerten. Hier wurde nur ein wenig ausprobiert und herumgekleckst, heißt das in etwa. Weil Kultur und Medien heute so kurzlebig erscheinen, neigt das Kino mittlerweile dazu, alles in Stein zu meißeln. Die Sehnsucht nach dem Monumentalen ist gewaltig. Vielleicht müssen Filmschaffende wieder einen eigenen Sinn für das Kleine, Beiläufige und Randständige finden und Raum für Miniaturen wie „Irrlicht“ schaffen. Wo 24 Bilder in der Sekunde vergehen, jedes das nächste überlagert, dürfen ruhig noch viel mehr Filme aufflackern und wieder verschwinden.

    Fazit: In der Spielzeit einer Serienfolge gelingt João Pedro Rodrigues, was anderen auch in drei Stunden nicht glücken will. „Irrlicht“ jongliert mit thematischen Felsbrocken, als wären sie aus Schaumstoff.

    Wir haben „Irrlicht“ beim Film Festival Cologne 2022 gesehen.

     

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