Franz Rogowski ist wie immer toll, aber der Rest wird dem Thema nicht gerecht!
Von Björn BecherIn einem zentralen Moment des 3-Stunden-Dramas „Lubo“ durchsucht die Titelfigur in der Nacht heimlich die Akten von Pro Juventute, einer Schweizerischen Stiftung, die sich dem Schutz bedürftiger Kinder verschrieben hat. Eine gefühlte Ewigkeit zeigt „Hidden Away“-Regisseur Giorgio Diritti uns, wie der Vater auf der Suche nach seinen von der Polizei mitgenommenen Kindern durch Karteikarten pflügt. Die bewusst zähe Szene illustriert gleich zwei Dinge. Es scheint so gut wie aussichtslos, dass Lubo seine Tochter und seine zwei Söhne jemals wiederfinden wird – und es sind einfach Unmengen von Kindern, die im Rahmen des Pro-Juventute-Programms „Kinder der Landstrasse“ unter dem Deckmantel staatlicher Fürsorge ihren Familien entrissen und für immer von diesen entwurzelt wurden.
Wie schrecklich dieses 1926 gestartete und erst 1972 nach großem öffentlichen Druck eingestellte Programm war, macht Diritti in seinem Film sehr deutlich: In seinen besten Momenten demaskiert „Lubo“ ein erschütterndes System, mit dem Fahrende Völker wie die Jenische ausgerottet werden sollten, indem ihr Nachwuchs einfach in die „normale“ Gesellschaft assimiliert wird (von den pädophilen Verstrickungen leitender Funktionäre mal ganz zu schweigen). Doch in seiner spürbar-aufgeblasenen Laufzeit mäandert das Drama derart monoton und gefühlsgedämpft durch gleich mehrere Jahrzehnte, dass die fraglos wichtige Botschaft trotz des hochklassigen Hauptdarstellers nur selten ihre volle Wirkung entfalten kann.
Glückliche Zeiten: Lubo (Franz Rogowski) begeistert als Straßenkünstler sein Publikum.
Im Jahr 1939 zieht Lubo (Franz Rogowski) mit seiner Familie und seinem gesamten Hab und Gut auf zwei Pferdewagen durch den Schweizer Kanton Graubünden. Bei gemeinsamen Straßenaufführungen wird das nötige Geld zum Leben verdient. Doch dann wird er von einer Minute auf die andere zur Armee eingezogen, um die Grenzen gegen eine mögliche Invasion aus Deutschland zu verteidigen. Weil er während seiner Zeit beim Militär erfährt, dass seine Frau gestorben ist, als sie Polizisten daran hindern wollte, ihr die drei Kinder wegzunehmen, begeht er jedoch Fahnenflucht.
Als sich ihm die Gelegenheit bietet, tötet er den österreichischen Schmuggler Bruno Reiter (Joel Basman) – und nimmt in der Folge dessen Identität an. Mit dem bei seinem Opfer gefundenen Bargeld und Schmuck verschafft sich Lubo Zugang zur besten Gesellschaft. Dort umgarnt er als vermögender Händler Bruno Reiter Bankiers und Frauen – und spielt sich zugleich als Wohltäter auf, der für Kinderschutzorganisationen spendet. So will er herausfinden, wo seine Kinder gelandet sind. Aber das ist nicht so leicht wie erhofft: Nicht nur gibt es noch etliche weiter Opfer, die Behörden haben auch Sicherheitsvorkehrungen getroffen, damit die Kinder bloß nicht wiedergefunden werden können...
Urs Eggers griff das Thema bereits in seinem preisgekrönten Klassiker „Kinder der Landstrasse“ mit Jasmin Tabatabai 1992 auf. Er nahm dabei in erster Linie die Sicht eines Mädchens ein, das als billige Arbeitskraft auf einem Hof landet und glaubt, ihre echten Eltern hätten sie vergessen. Diritti blendet diese Perspektive nun komplett aus und konzentriert sich einzig und allein auf Lubo, der anfänglich verbissen nach seinen Kindern sucht – und dann, nach einem plötzlichen Zeitsprung ins Jahr 1951 die Chance auf ein neues Familienglück bekommt…
Dabei profitiert der Regisseur maßgeblich von seinem Hauptdarsteller Franz Rogowski („Passages“). Der im internationalen Arthouse-Kino aktuell wohl angesagteste deutsche Schauspieler brilliert in der Rolle eines Chamäleons, dem der Wandel vom Straßenkünstler zum Soldaten zum schwerreichen Juwelenhändler spielend gelingt – und dessen Charme alle Frauen direkt verfallen. Es hat großen Reiz, Rogowskis Lubo dabei zuzusehen, wie sich die ignorante Oberschicht, die sich mit seinem wahren Ich niemals abgeben würde, um den Finger wickeln (und zum Teil auch schwängern) lässt. Ein bisschen erinnert das an eine Abwandlung von Leonardo DiCaprios Frank Abagnale Jr. aus „Catch Me If You Can“.
Mit der neuen Identität als Bruno Reiter verkehrt Lubo plötzlich in der Schweizer Oberschicht.
Bei der Gegenüberstellung der sich als Verteidiger des Kindeswohl feiernden Oberschicht und dem tatsächlich seine liebenden Kinder suchenden Lubo geht es selten subtil zu. Wenn die von dem Protagonisten verführte Witwe Elsa (Noémi Besedes) darüber fabuliert, wie die Jungen und Mädchen in den von ihr geförderten Einrichtungen erzogen werden, wird direkt deutlich, dass eine wichtige Komponente fehlt: Liebe. Lubo darf das trotzdem direkt noch mal adressieren. Immer wieder wird in dem italienisch-schweizerischen Drama recht plakativ unterstrichen, mit welcher Ignoranz oder Bösartigkeit hier vorgegangen wird. Am Ende nimmt der Film für wenige Minuten sogar noch eine Abzweigung zum Thema Pädophilie. Das hat man zwar schon kommen sehen, als der schmierige Sporthändler zum ersten Mal aufgetreten ist – und trotzdem wirkt es wie schnell noch pflichtbewusst nachgereicht.
Ein so wichtiges und erschütterndes Thema kann man durchaus auch mal plakativ und mit einem zusätzlichen Ausrufezeichen erzählen. Aber dann sollte es doch bitte auch eine mitreißende Kraft (oder zumindest Wut) entwickeln: Aber „Lubo“ wirkt in seiner monotonen Schilderung fast schon lethargisch. So richtige Ausschläge in die eine oder die andere Richtung gibt es nicht. Alles in „Lubo“ plätschert einfach nur gefällig vor sich hin. Die Geschichte schlägt immer wieder Haken, die anfänglich so wichtige Suche spielt zwischenzeitlich gar keine Rolle mehr - und es bleibt zugleich doch alles irgendwie egal. Spannung kommt so schließlich gar nicht mehr auf – zumal der gegen Lubo ermittelnde Kommissar (Christophe Sermet) ohnehin nur die Aufgabe erfüllt, bekannte Fakten noch mal für das Publikum zusammenzufassen.
Fazit: Mit einem gewohnt starken Franz Rogowski adressiert „Lubo“ ein sehr wichtiges und – zumindest außerhalb der Schweiz – auch noch viel zu unbekanntes Thema. Doch der Film bleibt dabei zu gefällig-langweilig, um nachdrücklich zu berühren oder wachzurütteln (oder zumindest seine dreistündige Laufzeit auch nur ansatzweise zu rechtfertigen).
Wir haben „Lubo“ beim Filmfestival Venedig 2023 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.