WEIL ICH (K)EIN MÄDCHEN BIN
Manchmal ist es zum Verzweifeln. Denn manchmal, da lässt sich nicht sein, wer man gerne wäre. Was tun, wenn man dem künstlerischen Talent eines Elternteils nacheifern will und einfach nicht die Klasse erreicht, die es zu erreichen gilt, um genauso groß rauszukommen wie zum Beispiel der Vater? Wenn man, wie Florence Foster Jenkins, unbedingt singen will, und es trotz aller Bemühungen einfach nicht kann? Ein Dilemma, dass sich nicht lösen lässt. Auf zu neuen Ufern. Wäre mein Rat. Was aber, wenn die Tatsache, irgendwann mal so zu werden wie der eigene Vater, und egal, was man dagegen unternimmt, genau das ist, was nicht sein soll? Wenn die eigene sexuelle Bestimmung nicht dem entspricht, was die Natur vorgesehen hat?
Das aufklärerische einundzwanzigste Jahrhundert schafft vor allem in Sachen eigener Identität das Unmögliche: Wenn man will, kann man sein, was man (rein biologisch) nicht ist. Das große Tabu ist zumindest in einigen Teilen der Welt aufgebrochen, auf Formularen lässt sich längst nicht mehr nur männlich oder weiblich ankreuzen. Mit dem Gefühl, in der falschen Haut zu stecken, müssen Frauen, Männer oder non-binäre Personen längst nicht mehr alleine sein. Bei Kindern ist das aber wieder ein Tick anders. Denn bei Kindern lässt sich nicht ganz klar herausfinden, ob das Dilemma der sexuellen Desorientierung nicht nur ein Spleen ist, eine Spielerei – oder ganz und gar ernstgemeint. Wie soll man als Elternteil wissen, was Sache ist? Wie darauf reagieren?
Egal, wohin es das Kind – in diesem Fall den achtjährige Aitor – in der Entdeckung seines Selbst wohl treibt: Kleinreden ist niemals eine Option. Das Gespräch auf Augenhöhe allerdings immer. Doch die Theorie ist anders als die Praxis. In der Praxis schleppen Eltern auch noch ihr eigenes ungehörtes Sorgenpaket aus der Kindheit mit herum. Mutter Ane zum Beispiel, die steht im künstlerischen Schatten ihres verstorbenen Vaters, will aber aus ihm hervortreten. Dafür kreiert sie Kunst, gießt Skulpturen, will den Job als Dozentin an einer französischen Uni unbedingt bekommen. Dies macht sie im Elternhaus am Land, im Schlepptau ihre drei Kinder, davon ist das jüngste eben Aitor, der längst weiß, dass er im falschen Körper steckt – und ein Mädchen sein will. Doch das geht nicht, da ist so manches im Weg, nicht nur das Physische, auch das Gesellschaftliche. Verständnis findet sie bei Omas Schwester Lourdes, einer Person, die in der Wahrnehmung der Dinge ihrer Zeit voraus zu sein scheint, sich intensiv mit Bienen beschäftigt und Cocó, wie sich das „Mädchen“ nennt, unter ihre Obhut nimmt, während Mutter sich selbst sucht.
In diesem spanischen Sommer wird vieles anders – und neu definiert werden. Vor allen Dingen aber ist es ein Sommer der Erkenntnisse. Den Weg dorthin, der durch die familiäre Vergangenheit führt und starre Sichtweisen aufbricht, beschreibt Spielfilmdebütantin Estibaliz Urresola Solaguren in kleinen, zarten Szenen, naturverbundenen Alltagsminiaturen, die anfangs nur in leichten Andeutungen über die Probleme Cocos (später Lucia) Aufschluss geben. Es lässt sich nur erahnen, ganz so wie für die Restfamilie selbst, insbesondere des älteren Bruders, was genau hier in anderen Bahnen verläuft. Das Indirekte ist wichtiges Gestaltungselement, der Fokus liegt gleichsam auf Mutter und Kind, denn beide müssen sich selbst finden – und ebenso einander. Da kommt es in 20.000 Arten von Bienen eben darauf an, wie diskret man sich diesen Umständen nähern darf – und muss. Bevor der Film aber zu vage wird, formt sich das große Ganze aus einer Vielzahl so poetischer wie fast schon dokumentarischer Szenen. Die Annäherung an einen Menschen, der plötzlich entdeckt, anders sein zu dürfen, als ihm vorgeschrieben wird, gelingt. Und zwar um einiges besser, als Florian David Fitz‘ Versuch, mit dem thematisch sehr verwandten Regiewerk Oskars Kleid Transsexualität in Form einer turbulenten Komödie darzustellen. Auch eine Herangehensweise – doch das Feingefühl ist dahin.
Sofía Otero gewann in diesem Jahr für ihr einnehmendes Spiel den Silbernen Bären der Berlinale: Der Anforderung, als Mädchen einen Buben darzustellen, der eben genau das sein will – ein Mädchen, ist in so jungen Jahren vielleicht leichter zu entsprechen als im Erwachsenenalter, aber dennoch eine beachtliche Leistung. Wieder zeigt sich, wie intensiv Kinderdarsteller aufspielen können. Wieder ist es ein Mysterium, woher die jungen Künstler all ihre Emotionen beziehen: mit Sicherheit ist es die Fähigkeit, zu imaginieren, ist es die kindliche Eigenart, sich einer fiktiven Vorstellung hinzugeben. Manchmal führt diese dazu, ein noch junges Leben von Grund auf ändern zu wollen.
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