Das Gehen ist das Ziel
Von Gaby SikorskiWer den faszinierenden Dokumentarfilm „Der Schneeleopard“ gesehen hat, wird sich an die beiden Protagonisten erinnern: an den Fotografen und Filmemacher Vincent Munier sowie an den Schriftsteller Sylvain Tesson mit seinen lakonisch tiefgründigen Texten. Gemeinsam touren sie durch den Himalaya – und irgendwann ist es beinahe egal, ob die beiden tatsächlich noch einen Schneeleoparden finden, so wunderbar fügen sich hier Worte und Bilder zum Gesamtkunstwerk.
Dass die Reise für Sylvain Tesson auch körperlich eine Herausforderung darstellte, wird dabei kaum thematisiert. Tatsächlich musste sich der Autor zuvor aber nach einem schweren Unfall erst mal ins Leben zurückkämpfen. Seine Methode dafür war ungewöhnlich: eine selbst verordnete Reha-Wanderung. Mit kleinem Gepäck lief Tesson 1.300 Kilometer durch Frankreich, vom Mittelmeer bis zum Ärmelkanal. Darüber schrieb er mit „Auf versunkenen Wegen“ (» bei Amazon bestellen*) einen erfolgreichen Reisebericht – und genau dieses Buch war für Vincent Munier überhaupt erst der Auslöser, um mit dem Autor gemeinsam dem Schneeleoparden aufzulauern.
Eine schöne, wahre Geschichte, die nun von Denis Imbert unter dem Titel „Auf dem Weg – 1300 Kilometer zu mir“ verfilmt wurde: Der Oscar-Preisträger Jean Dujardin („The Artist“) spielt Pierre Girard, einen erfolgreichen Schriftsteller und Abenteurer mit ausgeprägter Neigung zu Exzessen, ein Kettenraucher, Säufer und Charmeur. Zu Partys kommt er am liebsten über den Balkon – und auch sonst steht er furchtbar gern im Mittelpunkt. Doch von einem Moment zum nächsten ist alles anders:
Ein schwerer Unfall bringt Pierre auf die Intensivstation und zum Nachdenken. Als er Monate später das Krankenhaus verlässt, steht sein Plan fest: Gegen jeden ärztlichen Rat entscheidet er sich dafür, Frankreich abseits aller Straßen und ausgetretenen Pfade allein zu Fuß zu durchqueren. Dabei geht es ihm nicht nur um die körperliche Gesundung – Pierre möchte im wahrsten Sinne des Wortes in sich gehen, so den Weg zurück zum Leben und zu sich selbst finden…
Jean Dujardin begeistert – und das, obwohl er die meiste Zeit über allein auf der Leinwand zu sehen ist.
Regisseur Denis Imbert („Mystère – Victorias geheimnisvoller Freund“) und Drehbuchautor Diastème haben für ihr ebenso optimistisches wie philosophisches Nicht-Biopic, das sich vielleicht am ehesten als poetisches Abenteuer-Roadmovie bezeichnen lässt, eine ungewöhnliche Form gewählt: Zum einen formten sie aus dem biographischen Bericht einen Spielfilm, der sich lediglich lose an Tessons Buch und an seinem Leben orientiert. Eine gute Idee – können sie doch auf diese Weise einiges ausschmücken, ohne allzu sehr ins Private und damit ans Eingemachte zu gehen. Doch der zweite Punkt ist noch entscheidender: Sie erzählen ihren Film nicht chronologisch von Punkt A nach Punkt B bzw. von der Provence bis in die Normandie. Stattdessen entwickeln sie drei ineinander verwobene Geschichten.
Da ist zum einen als roter Faden Pierres Weg durch Frankreich mit Orts- und Entfernungsangaben – wobei er das erste Mal schon bei Kilometer 17 schlappmacht. Die Beine wollen am Berg nicht so, wie Pierre es will. Er ist noch zu ungeduldig, er muss lernen, seinen Geist an seinen Körper anzupassen. Die Erzählung von der Wanderung ist geprägt durch traumschöne Bilder der vielfältigen französischen Landschaften und immer wieder vom Blick in die Ferne: Durchatmen, sich strecken und staunen. Da gibt es kahle Berge, die wie glattrasiert wirken, liebliche Hügel, murmelnde Bäche, idyllische alte Städtchen – ein ungewöhnlicher Blick auf ein unbekanntes Frankreich. Es gibt aber auch gefährliche Geröllstrecken, unwegsame Wälder, reißende Flüsse und Wölfe im Morgengrauen. Pierre kämpft sich durch, er schläft fast immer draußen, er will „... der Maschinerie der Stadt und der Gefangenschaft toter Bildschirme entkommen“. Jeder Schritt bringt ihn näher an sein Ziel, die Halbinsel Cotentin am Ärmelkanal.
Ein zweiter Handlungsstrang erzählt von Pierre und seinem Leben bis zum Unfall, sozusagen aus dem Tagebuch eines Schwerenöters. Auf der dritten Erzählebene, die vor allem im Krankenhaus spielt, geht es um seine körperliche Gesundung nach dem Erwachen aus dem Koma. Schon allein diese Form macht den Film zum Erlebnis: Durch die abwechslungsreiche Erzählweise bleibt der Film spannend und erhält eine angenehm melancholische Dramatik. Die häppchenweise servierten Informationen zu Pierres Persönlichkeit vor und nach dem Unfall und zu seinem Leben schaffen dabei eine geradezu kathartische Atmosphäre: Da ist einer, der kaputt ist und durch einen innerlichen Reinigungsprozess geht, einer, der sich wiederfinden und womöglich ändern will oder muss – wie der Marlboro-Mann liebte er die Freiheit und das Abenteuer. Hier ist er nun, dieser Kerl, und was ist aus ihm geworden? Nur noch ein Schatten seiner selbst, aber er nimmt seinen Tod in Kauf, wenn er sich in diesem Zustand mit einem ziemlich kleinen Rucksack, zwei Walkingstöcken und ohne Handy auf den Weg macht, der ihn über steile Berge führt und durch unwegsame Täler, bei Sonne, Sturm und Regen.
Das hat etwas von Sekt oder Selters, ganz oder gar nicht – Leben oder Tod, obwohl dieser Gedanke nie ausgesprochen wird: Entweder er überlebt diese Tour de Force oder er geht daran zugrunde. Diesem Mann geht es nicht vorrangig um die innere Einkehr, es geht ums Überleben. Folgerichtig sind die Bekanntschaften am Wegesrand oder die Menschen, die er trifft und die ihn manchmal für kurze oder längere Zeit begleiten, keine gleichgesinnten Mitpilger, deren Geschichten irgendwie wichtig sein könnten, sondern sie beschützen und inspirieren ihn, damit er sich besser mit sich selbst auseinandersetzen kann.
An den französischen Landschaften und Sehenswürdigkeiten kann man sich kaum sattsehen!
Neben den traumschönen Bildern, an denen man sich gar nicht sattsehen kann und will, ist es Jean Dujardin, der den Film zum Ereignis macht. Er liefert eine Demonstration meisterlicher Schauspielkunst. Obwohl er einen großen Teil der Zeit allein zu sehen ist, gelingt es ihm durch sein Spiel, die Spannung nicht nur zu halten, sondern sogar zu steigern. Er verleiht Pierre eine facettenreiche Persönlichkeit, die sich einerseits treu bleibt und sich doch in „vor dem Unfall“ und „nach dem Unfall“ trennen lässt. Dabei ist der draufgängerische, alte Pierre vor dem Unfall deutlich weniger sympathisch als der neue Pierre, der dem Alkohol abgeschworen hat, weil ihn ein einziges Glas umbringen könnte.
Die Texte, die Sylvain Tessons Alter-Ego Pierre während der Wanderung schreibt und spricht, sind durchaus feinsinnig, ohne allzu bedeutungsschwanger zu wirken, leise poetisch, oft lakonisch. Seine Betrachtungen zur Natur und zur Rolle des Menschen in ihr sind dabei ebenso kritisch wie der Blick auf die eigene Persönlichkeit, die von Schritt zu Schritt immer mehr an Kraft zu gewinnen scheint.
Fazit: Mit „Auf dem Weg“ kommt der großartige Jean Dujardin als Verlorener, der sich wiederfinden möchte, in einem kraftvollen Drama ins Kino, das von traumschönen, manchmal meditativen Bildern lebt, die sich im Gedächtnis eingraben. Einfach immer weitergehen! So könnte die Essenz dieser Geschichte lauten, die mit sanftem Optimismus und poetischer Lakonie von der reinigenden Macht des Gehens erzählt.
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