Aus dem Stand der wohl berührendste Film des Jahres!
Von Björn BecherMan kennt das Spiel aus vielen Filmen (und vielleicht auch privat): Man sitzt in einer Kneipe oder einem Restaurant, beobachtet fremde Menschen und denkt sich Geschichten aus, wie diese wohl zusammengehören. Sind es Geschwister, Eheleute, Geschäftskontakte? „Past Lives“ von Celine Song beginnt ebenfalls damit, dass zwei Stimmen solche Theorien aufstellen über die Frau und die zwei Männer, die da gerade an einer Bar sitzen. Aber was das Trio tatsächlich um drei Uhr morgens in New York zusammengebracht hat, das unterscheidet sich dann doch von den üblichen oberflächlichen Ideen, die da aus dem Off eingeworfen werden.
Die Vorgeschichte dieser Begegnung konzentriert sich speziell auf drei Zeitpunkte, die jeweils zwölf Jahre auseinanderliegen. So ein bisschen wirkt das zumindest in Details autobiografisch gefärbte Filmdebüt der Bühnendramatikerin Celine Song deshalb auch wie eine verdichtete Version von Richard Linklaters meisterhaften „Before“-Trilogie mit Ethan Hawke und Julie Delpy bezeichnen. Auch David Leans „Begegnung“ kommt einem in den Sinn – dem vielleicht besten Film über eine Dreierbeziehung überhaupt. Mit einer ganz eigenen Unaufgeregtheit muss sich „Past Lives“, der nicht nur auf all die üblichen Eifersuchtsklischees, sondern auch auf Fehltritte jeder Art als plumper Plot-Motor verzichtet, aber selbst vor solchen Klassikern nicht verstecken.
Als Nora und Hae Sung sich nach 24 Jahren in New York das erste Mal wieder begegnen, steht trotzdem erstmal ein Touristenprogramm auf der Agenda.
24 Jahre vor der Szene in der Bar: Die zwölfjährige Na Young (Moon Seung-ah) und ihr Mitschüler Hae Sung (Seung Min Yim) sind beste Freunde und wahrscheinlich sogar verliebt. Aber die Trennung ist unausweichlich, denn Nas Familie wandert nach Kanada aus. Zwölf Jahre später arbeitet sie (nun gespielt von: Greta Lee) als junge Dramatikerin in New York, wo sie im Internet per zu Zufall entdeckt, dass Hae Sung (nun: Teo Yoo) auf der Suche nach ihr ist. Er konnte sie nicht finden, weil sie einen westlichen Namen angenommen hat und nun Nora heißt.
Beim Videochat ist die alte Chemie aus Kindertagen sofort wieder da. Die gemeinsamen Gespräche werden trotz Problemen mit Zeitverschiebung und Internetstabilität bald zum festen Bestandteil ihrer Tage. Doch ein persönliches Wiedersehen scheint so bald nicht absehbar – und dann lernt Nora bei einem Schreibprogramm in Montauk den Autorenkollegen Arthur (John Magaro) kennen. Mit dem ist sie bereits seit sieben Jahren verheiratet, als sich Hae Sung weitere zwölf Jahre später aufmacht, um Nora in New York zu besuchen und zum ersten Mal seit Kindestagen endlich wiederzusehen…
In einer so gefühlvollen wie amüsanten Dialogszene während der Abendroutine und dann im Ehebett sinniert Arthur über die Geschichte seiner Frau und ihres Kindheitsfreundes. Dabei kommt er am Ende zum Schluss: Wäre es eine fiktive Story, dann wäre er der böse, weiße Amerikaner, der sich zwischen das Glück der beiden Liebenden aus Jugendtagen gedrängt hat. Doch genau diese Geschichte erzählt „Past Lives“ eben nicht. Arthur ist genauso wenig ein Bösewicht wie Hae Sung, für den die Reise nach New York zwar auch eine Flucht aus einer eigenen Beziehungskrise in der koreanischen Heimat ist, der sich aber aller über zwei Dekaden lang angestauter Emotionen gerade nicht zwischen die Eheleute schiebt.
Wie in David Leans eingangs erwähntem „Begegnung“ sehen wir hier Menschen, die von aufrichtigen Gefühlen mitgenommen werden. Unglaublich feinfühlig und sensibel entstehen lebensnahe Figuren, die konstant mit sich sowie ihren Träumen und Vorstellungen ringen. Immer wieder gibt es Momente der Sprachlosigkeit, der Stille, in denen die herausragende Kamera von Shabier Kirchner („Lovers Rock“) auf den Protagonist*innen verweilt. Das Verlangen und die Liebe ist unter der Oberfläche fast physisch greifbar. Es ist jederzeit offensichtlich, dass Nora irgendeine Art von Gefühl für Hae Sung hat (und er für sie sowieso), aber sie eben auch Arthur (und ihr neues Leben in New York) liebt.
In „Past Lives“ wird die Entladung dieser Gefühle immer wieder vermieden: Da bricht das Internet mitten im Gespräche zwischen Nora und Hae Sung ab oder sie beendet die Calls ganz, weil sie einen zu großen Raum in ihrem Leben eingenommen haben –und sie vielleicht Angst hat, wohin all das womöglich noch führen könnte? Und wenn das Wiedersehen in New York mit einer so langen wie intensiven Umarmung beginnt, vermeiden anschließend beide das Gespräch darüber, sondern brechen lieber zum Touristenspaziergang durch den Brookyln Bridge Park auf. Erst Arthur zwingt Nora in ein offenes Gespräch über ihre Gefühle, das dann aber in der Erkenntnis mündet, dass es eben keine einfache Erkenntnis gibt.
Gerade der Verzicht auf die übergroßen Gesten, wie wir sie aus dem Romantikgenre gewohnt sind, macht „Past Lives“ so unendlich berührend. Es ist nicht die klassische Hollywood-Geschichte, in der am Ende jemand durch den Flughafen rennt, um jemand anderen vor dem Abflug zu bewahren. Stattdessen ist es ein Film der vielen kleinen und dafür umso wunderbareren Momente – und zwar in allen Belangen. Ob es nun kleine Bewegungen oder Blicke sind oder auch einfach ganz spezifische Beobachtungen: So muss Nora bei der ersten E-Mail an Hae Sung nach zwölf Jahren erst mal wieder überlegen, wo sie welche koreanischen Schriftzeichen auf ihrer amerikanischen Tastatur findet.
Es ist nur konsequent, dass „Past Lives“ auch ohne großen Knall endet. In der Bar vom Anfang entwickeln Nora und Hae Sung ihre ganz eigene Version des Spiels, bei dem man über das Leben anderer theoretisiert. Nach dem koreanischen Glauben In-Yun, nachdem eine besondere Verbindung zwischen zwei Menschen auf ein gemeinsames früheres Leben hindeuten kann, überlegen sie, wie sie wohl zu einer anderen Zeit miteinander verbunden waren: Als Prinzessin und Stallknecht? Oder als Vogel und Ast, auf dem er jeden Morgen sitzt. Es ist noch einmal ein Moment voller Humor, Romantik und viel Gefühl, der gemeinsam mit dem berührenden Finale den perfekten Abschluss für ein so grandioses wie wahrhaftiges Romantikdrama bildet.
Fazit: Am Ende werden viele die Tränen in die Augen schießen! Und das ohne einen einzigen kitschigen Moment! Celine Song hat direkt mit ihrem Spielfilmdebüt einen der wahrhaftigsten, erwachsensten, ehrlichsten, berührendsten, klarsichtigsten und klügsten Romantikfilme überhaupt abgeliefert.
Wir haben „Past Lives“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen, wo der Film in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.