Der Ort, an dem jeder Idealismus zwangsläufig zerschellt
Von Michael MeynsDas Lehrerzimmer. Für viele Schüler*innen ein fast schon mystischer Ort, wo der gefürchtete Lehrkörper über Noten, Verweise, Schulkarrieren und damit ganze Lebenswege entscheidet. Genau hier stößt auch das Wertegefühl einer jungen Lehrerin in Ilker Çatak eindringlichem Drama „Das Lehrerzimmer“ an seine Grenzen: Die Protagonistin ist frisch aus dem Studium an die Schule gekommen, noch voller Ambitionen, hehren Vorstellungen und dem Glauben an Moral. Nur das Richtige diese Lehrerin tun, die in jeder Szene des Films zu sehen ist, in deren Kopf, deren Psyche wir blicken und dort das Abbild einer Gesellschaft erkennen, die zunehmend aus den Fugen gerät.
Die 29-Jährige Carla Nowak (Leonie Benesch) unterrichtet Sport und Mathematik an einem Gymnasium. Sie ist die Neue im Kollegium, kennt sich noch nicht mit den Gepflogenheiten der Schule aus und staunt dementsprechend, als ihr Kollege Liebenwerda (Michael Klammer) auf ziemlich brüske Weise einen türkischen Jungen als vermeintlichen Dieb entlarvt. Doch der Junge ist unschuldig – ganz im Gegensatz zur Sekretärin Frau Kuhn (Eva Löbau), die Carla dank einer selbstgestellten Videofalle auf frischer Tat ertappt. Doch damit hat Carla selbst Grenzen überschritten und sieht sich nun ihrerseits Vorwürfen ausgesetzt. Zumal Frau Kuhns Sohn Oskar (Leonard Stettnisch) einer ihrer Schüler ist und nun von Teilen der Klasse gemobbt wird. Die einfache Lösung wäre es jetzt, Oskar an eine andere Schule zu versetzen, doch bei diesem Spiel will Carla nicht mitmachen…
Carla Nowak (Leonie Benesch) startet mit den höchsten moralischen Ansprüchen an sich und andere an der Schule …
In fast quadratischen Bildern ist „Das Lehrerzimmer“ gefilmt, im in den letzten Jahren wieder in Mode gekommenen 4:3-Format, dessen Einsatz in diesem Fall geradezu zwingend erscheint: Eng sind die Bilder, bei Nahaufnahmen bleibt neben den Köpfen kaum Platz, kein Raum zum Atmen, so wird das gesellschaftliche Korsett, in dem Carla gefangen ist, spürbar gemacht. Zumal Ilker Çatak sich komplett auf seine Hauptfigur Carla konzentriert, die in jeder Szene dabei ist, mit der wir die Geschichte erleben, in deren Denken wir regelrecht hineingezwungen werden:
Wenn Carla gleich in der ersten Szene miterlebt, wie Liebenwerda zwei Schüler mit unverhohlenem Druck dazu „überredet“, einen Klassenkameraden zu denunzieren, dann empfindet der Zuschauer Carlas Empörung mit. Wenn sie etwas später zuhören muss, wie Kolleg*innen ihre unverhohlenen Vorurteile pflegen, sich fragen, ob denn der türkische Junge, dessen Vater auch noch Taxifahrer ist, zu Hause genug Unterstützung hat, überträgt sich Carlas Wut auch auf den Zuschauer. Wie clever und komplex Ilker Çatak dabei mit Vorurteilen und Vorstellungen spielt, zeigt sich nicht zuletzt in dieser Szene, denn den oft unterschwellig rassistisch agierenden Liebenwerda hat er mit dem selbst dunkelhäutigen Schauspieler Michael Klammer besetzt.
… nur um dann festzustellen, dass das alles in der Realität so gar nicht haltbar ist.
90 Minuten lang zieht Ilker Çatak die, nennen wir es, Moralschraube an, beobachtet Carla dabei, wie sie sich immer mehr verrennt, wie sie versucht, das Richtige zu tun, dabei aber ihre eigenen moralischen Ansprüche nicht länger einhalten kann. Sie ist eine Getriebene, man könnte sagen ein Gutmensch, unter Druck gesetzt von ihren Kolleg*innen, von Helikoptereltern, die absurde Ansprüche stellen und nicht etwa das Beste für die Klasse, sondern das Beste für ihr Kind wollen. Vor allem aber getrieben von einer Gesellschaft, die inzwischen dazu neigt, bei jedem noch so kleinen Fauxpas einen Shitstorm vom Zaun zu brechen.
Wie man angesichts eines solchen Drucks die Ruhe behalten soll, wie sich das große Ganze vielleicht zu einer größeren Gelassenheit entwickeln kann: Auf diese Fragen weiß am Ende auch Çatak keine Antwort. Etwas unbefriedigend mutet es daher an, dass er seinen Film in der Schwebe enden lässt, dass die Geschichte an einem Punkt einfach vorbei ist und nicht zu einem runden Ende geführt wird. Dennoch hat Ilker Çatak mit „Das Lehrerzimmer“ seinen bislang besten Film gedreht. Seit seinem 2017 entstandenen Langfilmdebüt „Es war einmal Indianerland“ ist dies inklusive eines Tatorts schon sein fünfter Film, eine beeindruckende Produktivität, die sich nicht zuletzt in einer zunehmend souveränen Regie zeigt, einer präzisen Bildgestaltung, die mit einfachen filmischen Mitteln arbeitet, aber enorm effektiv in die Psyche seiner Hauptfigur blicken lässt.
Fazit: Ein dichtes, intensives Psychogramm, in dem Ilker Çatak von einer jungen Lehrerin erzählt, die angesichts eines Diebstahls an ihrer Schule das Richtige tun will und sich dabei zunehmend in moralischen Fallstricken verliert.
Wir haben „Das Lehrerzimmer“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen.