Ein raues Familienporträt in den Bergen
Von Janick NoltingDie Jahreszeiten vergehen in „Vermiglio“, doch die Bilder bleiben frostig. Da sind immer wieder diese graublauen Farbtöne, spröden Oberflächen, die Schatten, welche die Wände in Häusern in schroffe Reliefs verwandeln. Wenn hier Figuren durch den Schnee stapfen, vielleicht ein einzelnes Haus in der Nähe, inmitten der weiten Berglandschaft, dann stellt sich schnell die Frage, was sie an diesen unwirtlichen Ort eigentlich hält. Tradition, das althergebrachte Regelwerk, vielleicht die Furcht, dort draußen in der weiten Welt die gewohnten Verlässlichkeiten zu verlieren, und natürlich: die Mittellosigkeit.
Maura Delperos Film ist weniger von einer Handlung her gedacht. „Vermiglio“ präsentiert sich die meiste Zeit eher als Dokumentation eines Alltags im Laufe der Zeit, eher als Auffächern von Zuständen und Beziehungen als ein plotgetriebenes Erzählen. Zu Beginn ist noch alles ruhig. Man hört ein Atmen. Die Familie schläft. Nach und nach wachen alle auf, eine Kuh wird gemolken, Milch wird verteilt. Man versammelt sich an der Tafel. Ein neuer Tag beginnt in diesem abgelegenen Kosmos, der mit jeder Minute erdrückender erscheint.
„Vermiglio“ spielt in dem gleichnamigen Bergdorf in Italien. Es ist das letzte Jahr des Zweiten Weltkriegs. Viele Männer sind immer noch nicht heimgekehrt oder bereits tot. Der Patriarch (Tommaso Ragno) wacht in dieser Welt über die erwähnte Familie. Als Lehrer gilt er als Autorität im ganzen Dorf. Seine zahlreichen Kinder haben derweil wenig zu sagen, denn auch über ihre Zukunft bestimmt das Familienoberhaupt.
Als der Soldat Pietro (Giuseppe De Domenico) von der Front flieht und sich in Lucia (Martina Scrinzi), eine der Töchter des Lehrers, verliebt, beginnt ein unaufhaltsamer Desillusionierungsprozess unter den jungen Frauen.
Maura Delpero („Maternal“) und Kameramann Mikhail Krichman („Loveless“) beweisen ein immenses Talent im Einfangen der Details, Handgriffe, Atmosphären und Objekte, aus denen sich ihre historische Welt auf der Leinwand zusammensetzt. „Vermiglio“ ist ein Film der Arbeiten und Mühen, der sich zwei Stunden Zeit nimmt, ein Milieu und eine beschwerliche Lebensrealität in imposanten Bildern einzufangen. Und sei es allein im Zusehen, wie Menschen Wäsche im eiskalten Wasser waschen, Heu durch den Schnee ziehen oder sich in einem schummrigen Gewölbe zum Feiern und Tanzen treffen, ehe es wieder in den geregelten Alltag geht.
Man braucht einen langen Atem, um sich auf „Vermiglio“ einzulassen. Delperos Film entlohnt jedoch für die Geduld, indem er die Abgründe und Mechanismen der patriarchalen Ordnungen in einer erstaunlichen Komplexität ausbreitet. Denn die Regisseurin bricht deren Gewalt nicht einfach auf offensichtlichste Standpauken oder Schlagwörter a la „toxische Männlichkeit“ herunter, sondern begegnet dem Thema mit einer vielschichtigen Beobachtungsgabe für die verschiedenen ambivalenten Perspektiven im ländlichen Raum begegnet. Zwar ist „Vermiglio“ ein historisch konkret verorteter, in seiner Fokussierung und Austauschbarkeit aber überzeitlicher Blick auf starre Strukturen, die bis in die Gegenwart reichen. So altbekannt viele seiner Beobachtungen auch sein mögen.
Er zeigt, wie Hörigkeit, Unterdrückung, Angst, Aberglaube und die Suche nach Halt in Körper und Verhaltensweisen aller übergehen. Sexismus und anerzogene fundamentalistische Dogmen formen hier das Gerüst für den gesamten Umgang. Der Katholizismus und all seine Tabus, die „Vermiglio“ porträtiert, sind dabei nur ein Versatzstück der autoritären Machtgefüge und Erziehungspraktiken.
So gehört zu den alltäglichen Routinen und Ritualen in diesem Film auch das Erfinden von Strafen, Methoden der Buße. Eine der Schwestern wird in Kreuzespose auf dem Boden des Hühnerstalls liegen. Später verzehrt sie den Kot der Tiere.
Interessant ist auch, wie Delpero die Figur des Vaters zeichnet. Der legt einerseits einen Wert von Bildung und Besonnenheit, verkörpert andererseits den Tyrannen, der nicht davor zurückschreckt, seine Kinder zu demütigen, weil sie seinen Vorstellungen und seiner Image-Pflege womöglich nicht entsprechen. Er entscheidet darüber, wer es aus diesem festgefahrenen Kosmos herausschaffen wird oder nicht. Fehlen die ökonomischen Mittel, erfindet man fadenscheinige Argumente und präsentiert diese als den besten Weg.
Und dann sind da diese grübelnden Momente, in denen der Vater in sich gekehrt, rauchend ins Leere starrt, hadernd mit seiner Außenwahrnehmung, wenn das Performen seiner Rolle einmal vor aller Augen Risse bekommen hat. Auch er scheint sich vor der ausgemachten Alternativlosigkeit dieser Welt zu fürchten. Das meint auch den Krieg in der Ferne. Die Jungen wachsen im Dorf bereits mit scheinbar zwingenden Fantasien auf, wie sie sich einmal ihre Zukunft an der Front vorstellen.
„Vermiglio“ stellt damit selbst die Möglichkeiten des Ausbruchs und Aufstiegs in Frage. Auf dem Internat, sofern der Bildungsweg der Kinder weitergeht, wartet weitere Züchtigung. Figuren wie der Soldat Pietro, die ein romantisches Glück versprechen, entpuppen sich als Lügner, die ewige Wunden in den Biographien reißen, zuvorderst in denen der Frauen. Der Krieg habe aus den Männern Idioten gemacht, heißt es einmal im Film. Nicht nur der Krieg, möchte man ergänzen.
All das verfällt erzählerisch irgendwann in einen repetitiven, stockenden Modus. „Vermiglio“ verliert sich etwas in all den Rückschlägen, ohne in seiner Studie nennenswert von der Stelle zu kommen. Und doch hat Maura Delpero keinen komplett nihilistischen, hoffnungslosen Film gedreht. Sie arbeitet sich in den düsteren Eindrücken zu wenigen unscheinbaren Revolten im Verborgenen durch. In der Schminke, die man heimlich im Stall aufträgt, allen Verboten zum Trotz. Oder im Griff zur Zigarette. Das ikonische Auftreten des herrschenden Vaters – man eignet es sich an. Wenn „Vermiglio“ einen Ansatz präsentiert, verkrustete Strukturen aufzubrechen, dann ist es überhaupt das Studieren und Erkennen von sozialen Rollen.
Fazit: Maura Delpero hat einen schleppenden und nicht sonderlich originellen, aber durchweg bildgewaltigen und vielseitigen Historienfilm gedreht. „Vermiglio“ fängt nicht nur eindringlich die Strapazen des Landlebens ein, sondern wirft einen facettenreichen Blick auf weibliche Lebensrealitäten in einem strengen patriarchalen Sittenkorsett.
Wir haben „Vermiglio“ beim Filmfest Venedig 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.