Die große Kunst des "Schillerling"
Von Christoph PetersenBereits 1964 durch die amerikanische Kulturkritikerin Susan Sontag in ihrem berühmten Essay „Notes On ‚Camp‘“ popularisiert, gibt es bis heute einfach keine vernünftige deutsche Übersetzung des Begriffs: „Kitschig“, „extravagant“, „parodistisch“, „schrill“ – klar steckt das schon alles mit drin, und doch reicht keines der Worte für sich aus, um die Bedeutung von „Camp“ allumfassend abzubilden. Also habe ich in meiner „Not“ ChatGPT gebeten, doch bitte einen passenden deutschen Begriff einfach zu erfinden – und so wurde „Schillerling“ geboren: Es kombiniert das Wort „schillern“, um den glänzenden und extravaganten Aspekt von „camp“ einzufangen, mit dem Suffix „-ling“, das eine gewisse Verspieltheit und Leichtigkeit impliziert.
Jetzt, wo die Sprachbarriere erst einmal aus dem Weg geräumt ist, können wir auch direkt einen „König des Schillerling“ krönen, denn was „Carol“-Regisseur Todd Haynes mit seinem schlichtweg sauunterhaltsamen Melodrama „May December“ abliefert, ist wirklich ganz große Camp-Kunst: Ein plötzlicher dramatischer Musikeinsatz. Die Kamera zoomt heran an das Gesicht der Oscargewinnerin Julianne Moore, die gerade die Kühlschranktür geöffnet hat: „Ich glaube, wir haben zu wenige Hotdogs.“ Später beobachten wir mit Natalie Portman eine weitere Oscargewinnerin dabei, wie sie mit greller blonder Perücke und einer züngelnden Schlange im Arm einen Siebtklässler zu verführen versucht.
Ein meisterhaftes Schauspielerinnen-Duell – Julianne Moore und Natalie Portman stacheln sich in „May December“ gegenseitig zu Bestleistungen an!
Nicht nur das ständige Vexierspiel mit Spiegeln, auch die zwei komplexen weiblichen Hauptfiguren erinnern dabei an die Filme von Indie-Ikone John Cassavetes („Die erste Vorstellung“, „Eine Frau unter Einfluss“): Julianne Moore („Still Alice“) ist Gracie Atherton-Yoo, die vor 20 Jahren erst in den Boulevardschlagzeilen und dann im Knast landete, nachdem die verheiratete Mutter in der Abstellkammer einer Tierhandlung mit einem erst 13 Jahre alten Schüler erwischt wurde. Nach ihrer Entlassung hat Gracie ihren inzwischen volljährigen Liebhaber Joe (Charles Melton) dann geheiratet: Das in einem schönen Haus auf einer Insel lebende Paar hat drei gemeinsame – teils noch hinter Gittern geborene – Kinder, von denen zwei in wenigen Tagen ihren High-School-Abschluss machen werden.
Natalie Portman („Black Swan“) wiederum verkörpert Elizabeth Berry, die bereits in wenigen Wochen in einem Indie-Film über den Skandal die Hauptrolle spielen soll. Zur Vorbereitung hat sie Gracie um die Erlaubnis gebeten, sie und ihre Familie einige Tage lang begleiten zu dürfen – denn im Gegensatz zu einem bereits kursierenden Trash-TV-Film sollen die damaligen Geschehnisse diesmal so akkurat wie möglich geschildert werden. Doch Elizabeths Ankunft reißt nicht einfach nur alte Wunden wieder auf, sie erschüttert das Selbstbild aller Beteiligten vielmehr in ihren Grundfesten…
Gracie präsentiert sich als vorbildliche Gastgeberin – und trotzdem ist von der ersten Sekunde eine unglaubliche Anspannung zwischen den beiden Frauen spürbar: Der Kampf um die Wahrheit hat begonnen – und die Geschichte wird von der Siegerin geschrieben! Elizabeth hat offensichtlich all die Boulevardartikel, Fernseh-Specials und sonstige verfügbaren Quellen minutiös studiert, um alles Erdenkliche über Gracie und die damalige Affäre in Erfahrung zu bringen – und nun hofft sie bei ihren Gesprächen mit Freund*innen, Bekannten und Familienmitgliedern auf das eine extra Detail, das es ihr ermöglicht, ihrer anstehenden Performance eine möglichst umfassende Wahrhaftigkeit zu verleihen.
Dafür kommt grundsätzlich erst einmal alles in Frage, etwa das Lispeln, das nur in absoluten Stresssituation die perfekte Fassade der alles im Griff habenden Ehefrau und Mutter aufbricht, oder die Art, wie Gracie sich schminkt, weshalb sich Elizabeth den Markennamen von jedem einzelnen Puder pflichtbewusst in ihrem Notizblock notiert. Aber erst, als sie von Gracies Sohn aus erster Ehe (Cory Michael Smith) erfährt, dass seine Mutter als Kind womöglich von ihren zwei älteren Brüdern mussbraucht wurde, meint Elizabeth, endlich den Schlüssel für die psychologische Erklärung des Skandals gefunden zu haben – nur um ihn von Gracie gleich wieder aus den Händen geschlagen zu bekommen.
Es ist nicht immer klar, ob Elizabeth wirklich nur zum Studieren einer Rolle gekommen ist – oder ob nicht doch noch mehr hinter ihren Recherchen steckt…
„May December“ ist viel zu offen und komplex, als dass er am Ende einfach den einen Twist liefern würde, der alles erklärt – stattdessen lässt Todd Haynes die vielen angeschnittenen Beziehungen (die Mehrzahl der Nebenfiguren bekommt zwar nur ein, zwei Szenen, fühlt sich aber dennoch wahnsinnig lebendig an) einfach für sich stehen. Außerdem hat der Regisseur offensichtlich einen unglaublichen Spaß dabei, seinen zwei Stars dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig zu Bestleistungen anspornen – zwei Oscarpreisträgerinnen im subtilen Psycho-Duell auf dem absoluten Höhepunkt ihres Schaffens, die sich im selben Moment aber auch nicht zu schade sind, sich ganz uneitel selbst ein Stück weit durch den Kakao zu ziehen. Wir sehen einmal im Hintergrund eine Szene aus der TV-Version des Stoffes – und die ist natürlich absoluter Trash! Da sieht man dann auch sofort den Unterschied zu dem delirierenden Camp, der in vielen Filmen von Todd Haynes bereits mitschwang, den er nun aber auf die Spitze treibt …
… und damit meinen wir nicht nur die bereits erwähnte Hot-Dog-Szene, sondern alle möglichen Momente, in denen uns „May December“ mit seinem rauschhaften schwarzen Humor aus der Reserve lockt. Wenn Elizabeth sich bei der Recherche in der fraglichen Tierhandlungs-Abstellkammer plötzlich selbst befriedigt und man nicht mehr weiß, ob das nun noch etwas mit der angestrebten Rollenfindung oder nicht doch viel mehr mit einer persönlichen Obsession zu tun hat, wird man als Zuschauer*in ebenso aus der Bahn geworfen wie bei einem Gastbesuch in der Theaterklasse von Gracies Tochter: Dort reagiert Elizabeth auf die eigentlich ungehörige Nachfrage, ob sie schon mal einen Nacktauftritt hatte, mit einer verstörenden Souveränität, die nicht nur den anwesenden pubertierenden Schüler*innen die Schamesröte ins Gesicht treibt.
Fazit: Ein grandios gespieltes, komplex-verschachteltes Melodrama, das sich seiner campy Seite nicht nur nicht schämt, sondern sie im Gegenteil sogar mit absoluter Inbrunst umarmt (und deshalb nur umso mehr Freude bereitet).
Wir haben „May December“ beim Cannes Filmfestival 2023 gesehen, wo er in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.