Die Mutanten sind unter uns. Das wissen wir Deutschen spätestens seitdem namhafte Privatsender einige Exemplare dieser Gattung zur Prime-Time beim öffentlichen Container-Kuscheln in die bundesbürgerlichen Wohnstuben senden. Die Chromosomen-Monster der Zukunft können jedoch nicht nur telegen in die Kamera greinen, sie verfügen auch über enorme Kräfte, die ihnen der evolutionäre Wandel in die Wiege gelegt hat. Sie können unter anderem durch Wände gehen, Gedanken lesen, Laserstrahlen aus ihren Augen schießen lassen, die Haut wie ein Chamäleon verändern oder sich auch einmal zur Abwechslung selbst in Bruchteilen von Sekunden von einem Ort zum Nächsten teleportieren. Seit 1963 finden die X-Men - wie auch die historisch älteren Kollegen The Fantastic Four und Spiderman - als gezeichnete Superhelden ihre Verbreitung unter dem legendären Comic-Label Marvel. Ihre übernatürlichen Begabungen hatten sie ursprünglich von Eltern ererbt, die in der Atomindustrie tätig waren. Als das Comic 1975 nach einer längeren Pause ein Comeback feierte, war das Schema allerdings allgemeiner gefasst: Die X-Men sind seitdem Helden durch genetische Differenz, nicht durch Defekt. Von den Menschen werden diese Unterschiede notwendig als unheimlich aufgefasst, und auch die Helden selbst müssen erst eine Einweihung erfahren, bevor sie ihre Eigenschaften in den Dienst einer Ordnung stellen.
Anno 2000 gelang den Mutanten in Bryan Singers Comic-Adaption „X-Men" erstmals der Sprung auf die große Kinoleinwand. Auch Singer, dem Regisseur des intelligent verschachtelten Teufelsstücks „The usual suspects“, charakterisierte die Helden der legendären Marvel-Comics nicht als strahlende Supermenschen, sondern als Diskriminierte und Verfolgte im eigenen Land, in deren Fähigkeiten Nachbarn und Politiker stets nur das Fremde und Bedrohliche erblickten. Im Zentrum der Verfilmung stand die gescheiterte Männerfreundschaft zwischen dem charismatischen Professor Xavier (Patrick Stewart), einem gelähmten Weisen der Mutanten, der deren Kräfte zum Konstruktiven lenken will, sowie seinem radikalen Gegenspieler Magneto (Ian McKellen), der als Reaktion auf die Ablehnung und die Diskriminierung den totalen Krieg gegen die Menschheit plant.
Drei Jahre nach Bryan Singers erstem abendfüllendem Mutantenstadl kehren die Angehörigen der Gattung Homo Superior in auf die Leinwand zurück. „X-Men 2“ präsentiert sich in der Konzeption seiner Story erneut mit dem gleichen tripolaren Kräfteverhältnis wie der erste Teil: Im Widerstreit stehen die beiden rivalisierenden Fraktionen der Mutanten – die eine unter Professor Xavier, die eine friedliche Koexistenz mit der Menschheit anstrebt, die anderen unter Führung von Magneto, die auch nach ihrer Niederlage in Teil eins den militanten Weg befürwortet – sowie radikale Apologeten der Intoleranz auf Seiten der nicht zu übernatürlichen Taten befähigten Menschen. Synonym könnte diese Fraktionsbildung für so viele reale historische sowie aktuelle Konflikte stehen. Wenn Xavier Martin Luther King ist, dann ist Magneto Malcolm X. Beide stehen als Symbolfiguren für die in der Weltpolitik so häufig anzutreffende Konstellation einer unterdrückten und verfolgten Minderheit, in der verschiedene Lager zum einen den Ausgleich mit dem Gegner, zum anderen die Eskalation anstreben.
Doch im Gegensatz zu Teil eins haben sich die Gewichtungen deutlich verschoben. War anno 2000 der Wählerstimmen-heischende und Stammtischparolen deklamierende Senator Kelly (Bruce Davison), der wie in einer düsteren Vorahnung auf die tatsächlichen innenpolitischen Ereignisse in den Vereinigten Staaten nach dem 11. September eine Registrierungspflicht für Mutanten forderte, eher als kuriose Figur angelegt (die ja dann auch ein recht unrühmliches Ende nahm), so erhält „X-Men 2“ mit dem ehemaligen Ur-Hannibal-Lecter Brian Cox („The Ring", „Blutmond") einen wirklich profilierten Schurkendarsteller an der Menschenfront. Diesen General Stryker treibt ein noch viel intensiverer, persönlicher motivierter Hass an als den schmierigen, aalglatten Senator, der die öffentliche Hetze und das Apartheidsgebaren nur als Mittel zum Zweck auf der Jagd nach Wählerstimmen verwendete, und er agiert nicht auf Pressekonferenzen oder vor Senatsausschüssen, sondern hinter den Kulissen und zumeist direkt im Oval Office. Stryker verfolgt keine Ideologie und kein politisches Programm, sondern seine persönliche Vendetta mit Professor Charles Xavier, den er für die Krankheit seines Sohnes verantwortlich macht. Strykers Hass entspringt zugleich dem Verdrängen heftiger Schuldgefühle durch den Abwehrmechanismus der Projektion, da er selbst einst als Militärwissenschaftler an menschlichen Versuchskaninchen zwecks Züchtung von Supersoldaten experimentierte.
Lag im ersten „X-Men“ sowohl das darstellerische als auch das erzählerische Schwergewicht des Films eindeutig im Duell der Antipoden Magneto und Xavier, dargestellt von den beiden wunderbaren Shakespeare-Mimen Ian McKellen („Herr der Ringe 1"+"2") und Patrick Stewart („Star Trek: Nemesis"), so wird dieses in „X-Men 2“ eindeutig auf den geplanten Genozid Strykers an den Mutanten verschoben. Handlungsbedingt fällt Patrick Stewarts darstellerische Präsenz dürftiger aus als noch im ersten Teil, wird doch der Philanthrop und programmatische Gutmensch recht bald nach Beginn des Films von Stryker entführt, um seine mentalen Fähigkeiten und die seiner Gedankenkontrollmaschinerie Cerebro gegen die Mutanten einzusetzen. Xaviers Gefangenschaft und seine Unterwerfung unter eine diabolische Gedankenkontrolle bieten dem großartigen Mimen Patrick Stewart leider nur wenig darstellerischen Raum und lassen daher die Figur des humanistisch gebildeten Mutanten-Chefs insgesamt etwas in den Hintergrund treten.
Vielmehr entbrennt der Entscheidungskampf um das Wohl und Wehe der Spezies zwischen General Stryker und den verbliebenen X-Men von Xaviers Begabtenschule, die sich in der Not mit ihrem bisherigen Gegenspieler Magneto und dessen blauhäutig-gestaltwandelnder rechten Hand Mystique zusammenraufen müssen, um der Bedrohung Herr zu werden. Bryan Singer wartet hierbei wieder mit der gleichen Riege namhafter Darsteller wie im ersten Teil auf, angefangen über den inzwischen sowohl als subtiler Charakterdarsteller als auch als purer Testosteronbolzen etablierten Hugh Jackman („Kate & Leopold", „Passwort: Swordfish") in der Rolle des krallenbewehrten Kämpfers Wolverine über die mittlerweile Oscar-prämierte Halle Berry („Passwort: Swordfish", „Monster's Ball", „007 - Stirb an einem anderen Tag") als Storm, die wie immer faszinierende Famke Janssen („Sag' kein Wort") als Jane Grey bis zur auf bezaubernde Weise erwachsen gewordenen Anna Paquin („Almost Famous") als Rogue. James Marsden muss sich als Cyclops aus den gleichen inhaltlichen Gründen wie Patrick Stewart mit deutlich weniger Szenen als im ersten Teil begnügen. Neu im Sortiment des Mutantenstadls sind dafür Alan Cumming mit einer tricktechnisch begnadet umgesetzten Performance als Teleporter Nightcrawler, der sein Talent bislang unter dem bürgerlichen Namen Erik Wagner in einem deutschen Zirkus zur Schau stellte (Alan Cumming spricht in der Originalversion von „X-Men 2“ auch an vielen Stellen deutsch), sowie Powerfrau Kelly Hu, die als kampfstarke Sparringspartnerin für Krallenmann Wolverine der Comicsaga einen markanten Schuss Martial-Arts fernöstlicher Prägung verpasst.
Faszinierendste Figur bleiben der schillernde Erik Lehnsherr alias Magneto, der noch immer getrieben vom traumatischen Verlust seiner Eltern in einem deutschen Konzentrationslager dem Widerstandskampf der Mutanten gegen die Pogrompläne der Hardliner und Falken unter den Menschen jene übermenschliche Diktion verleiht, die sich Stan Lee bei der Erschaffung seiner Comicfiguren in den 60er Jahren sicherlich erträumt hat sowie Krallenmann Wolverine, der einsame Wolf mit Clint-Eastwood-Charme, der beim Kampf gegen die Schergen General Strykers auch mit der eigenen, bislang unbekannten Vergangenheit konfrontiert wird. Das inzwischen etwas abgenutzte Motiv von den Metamorphosen des Körpers während der Pubertät, dem Sich-fremd-fühlen im eigenen Körper beim Erwachsenwerden reflektieren diesmal Aaron Stanford als Pyro und Shawn Ashmore als Iceman. Ein wenig vermisst man die romantischen Funken, die im ersten Teil zwischen Rogue und Wolverine flogen – der anrührende, scheue Teenager und der zynischer Berserker mit den Stahlkrallen bildeten ein ideales Kontrast-Identifikationspaar. Auch das humorvolle Buddy-Geplänkel der beiden um die Gunst der Telekinetin Jane Grey buhlenden Mutanten Wolverine und Cyclops wurde zugunsten der straffen Inszenierung größtenteils aufgegeben.
„X-Men 2“ ist deutlich action-orientierter ausgefallen, enthält mehr Kämpfe, mehr Schauplätze und spricht insgesamt eine wesentlich rauere Sprache als sein Vorgänger. Begann der erste Film mit der Szene in einem Konzentrationslager des Jahres 1944 noch mit einem ungewöhnlich düsteren, überhaupt nicht comic-typischen Prolog, so eröffnet „X-Men 2“ mit einer furiosen Action-Sequenz im Weißen Haus, die gleich die Marschrichtung für den übrigen Film vorgibt. Wenig ist übrig geblieben von den gedankenüberfrachteten Dialogen und Phrasen über Toleranz, Akzeptanz und Humanität – wozu auch, die Fronten sind schließlich geklärt. Mehr Popcorn-Entertainment, Action und spektakuläre Special-Effects, weniger Seifenoper-Appeal und Pathos-Quotient, ohne jedoch in die Minus-IQ-Sphären anderer Comicverfilmungen vom Schlage eines „Daredevil" zu verfallen – Bryan Singers Konzeption ging lückenlos auf. Als Verfilmung einer Graphic Novel ist "X-Men 2" ein im besten Sinne grafisches Werk, auf das Wesentliche konzentriert sowohl in der Figurenzeichnung als auch in der Choreografie der Actionszenen, in Psychologie und Politik. Besonders raffiniert sind die Farben, sie wirken wie schockgefrorenes Technicolor: Eine kalte Pracht durchweht diese Fortsetzung, der bei aller Betonung des Kinetischen auf eine zutiefst romantische Klimax hinausläuft. Dass der rasante Showdown von “X-Men 2“ im exakt gleichen Cliffhanger mündet wie einst „Star Trek 2 – Wrath of Khan“ schürt jetzt bereits die Vorfreude auf den nächsten Teil der Serie.