Kleine Mörderin, ganz groß
Von Sidney ScheringDass man den Horrorfilm „Orphan – Das Waisenkind“ nicht fortsetzt, sondern stattdessen seine Vorgeschichte erzählt, ist nachvollziehbar: Schließlich gibt es deutlich mehr offene Fragen bezüglich der Vorgeschichte als darüber, was im Anschluss an den Abspann noch passieren könnte. Zudem würde ein Sequel die Glaubwürdigkeit der Geschichte überstrapazieren, zumindest sofern man sich weiter der interessantesten Figur aus dem Film widmen möchte. Deshalb Achtung, letzte Chance für „Orphan“-Ahnungslose, diese Kritik nicht weiterzulesen:
Am Ende des Originals von 2009 kommt nämlich nicht nur heraus, dass das boshafte, neunjährige Waisenkind in Wahrheit eine 33-jährige Frau ist – sie wird außerdem getötet. Nun wäre sie längst nicht die erste Horrorfigur, die auf wundersame Weise ins Reich der Lebenden zurückkehrt und munter weitermordet. Dennoch erscheint es sinniger, sie schlicht dabei zu zeigen, wie sie vor den Geschehnissen aus „Orphan“ eine andere Familie terrorisiert. Dass man sich mit diesem Prequel geschlagene 13 Jahre Zeit gelassen hat und dennoch auf die inzwischen 25-jährige Isabelle Fuhrman in der Titelrolle setzt, führt allerdings zu ganz anderen Glaubwürdigkeitsproblemen. Dessen ungeachtet ist William Brent Bells „Orphan 2: First Kill“ nicht nur ein ebenso kurzweiliger wie spannender Horrorfilm, sondern auch ein das Original tatsächlich bereicherndes Prequel.
Isabelle Fuhrman ist inzwischen 25 – und selbst wenn es ihr nicht 100-prozentig glaubwürdig gelingt, eine Neunjährige zu verkörpern, kommt sie nah genug dran.
2007 in Estland: Die volljährige Leena Klammer (Isabelle Fuhrman) sieht aufgrund einer Hypophysen-Insuffizienz wie ein neunjähriges Mädchen aus und nutzt dies für kriminelle Machenschaften. Als sie deshalb in eine psychiatrische Anstalt verfrachtet wird, gelingt ihr die Flucht. Im Anschluss plant sie ihren bislang ambitioniertesten Betrug: Sie gibt sich als Esther Albright aus. Die Neunjährige ist die verschollen geglaubte Tochter einer wohlhabenden Familie aus Connecticut. Während Mutter Tricia (Julia Stiles) durchdreht vor Freude, ist ihr Gatte, der einfallsreiche Maler Allen (Rossif Sutherland), sprachlos vor Glück. Gunnar (Matthew Finlan), der Bruder der echten Esther, zeigt sich dagegen von seiner vorlauten und skeptischen Seite. Kann Leena die Fassade aufrecht erhalten oder wird ihr falsches Spiel doch irgendwann auffliegen?
Das Aufrechterhalten der Fassade ist nicht nur für Leena entscheidend, sondern auch für die Filmschaffenden, die hier eine Schauspielerin in ihren Zwanzigern als vorpubertäres Mädchen ausgeben. Und das ohne solch ein hohes Budget zur Verfügung zu haben, wie es die Marvel Studios regelmäßig für das digitale De-Aging von Tony Stark und Co. verwenden. Stattdessen müssen ein paar gezielte Digitaleffekte, perspektivische Tricks und Make-up das Kind nun schaukeln. Um es kurz zu machen: „The Boy“-Regisseur William Brent Bell ist es nicht gelungen, Isabelle Fuhrman vollauf überzeugend in die Figur aus „Orphan“ zurück zu verwandeln. Aber selbst wenn sie in ihrer Leena-Aufmachung nun nicht unbedingt wie ein Grundschulkind aussieht, ist es den Verantwortlichen durchaus eindrucksvoll gelungen, sie optisch um eine ganze Reihe von Jahren zu verjüngen.
Isabelle Fuhrmans Performance hat natürlich ebenfalls einen großen Anteil daran: Wenn Leena unter Menschen ist, die sie hereinlegen will, setzt sie ein geradezu kitschig-strahlendes Babyface auf, das sie zuvor mit Hilfe alter Hollywood-Filme einstudiert hat. Ist Leena dagegen allein, fällt prompt ihre kindliche Mimik in sich zusammen und die verlebte Frau in ihr kommt zum Vorschein – inklusive der vielen Jahre voller grausamer Erfahrungen, Wut und Verzweiflung, die ihr dann ganz plötzlich ins Gesicht geschrieben stehen.
Solche Sequenzen nutzen Bell und Drehbuchautor David Coggeshall wiederholt für eine gute Dosis an ebenso bitterem wie süffisantem Humor. Mal versteckt sich Leena, um mit Zornesfalten auf der Stirn und erschöpften Augen ihren Frust in Wodka zu ertränken. Ein anderes Mal stiehlt sie ein Auto, schminkt sich aufreizend und düst mit einer Kippe im Mundwinkel über die Straße, während sie zum Partyhit „Maniac“, der vom gleichnamigen Serienkiller-Slasher inspiriert ist, ordentlich abgeht. Diese kreativen, finsterkomischen Augenblicke vertiefen die Charakterisierung der Killerin im Grundschulmädchenlook. So sehr, dass man gelegentlich sogar so etwas wie Mitgefühl für sie empfinden kann. Denn dadurch, dass sie diesmal nicht weiter die gruselige Antagonistin ist, sondern die Haupt- und Bezugsfigur, wird im Prequel viel intensiver auch auf Leenas Innenleben geblickt.
Julia Stiles spielt die Freude der Mutter über ihr zurückgekehrtes Kind mit einer solchen Inbrunst, dass man gar nicht auf die Idee kommt, die Glaubwürdigkeit des Szenarios zu hinterfragen.
Das beginnt mit wiederholten, längeren Aufnahmen von Leenas diversen Narben, die sie bei Suizidversuchen davongetragen hat. Es setzt sich damit fort, dass Leena wiederholt mit dem Gedanken spielt, nachts kommentarlos zu verschwinden und woanders ihr Glück zu finden. Außerdem wird gezeigt, wo Leena ihre bereits im Original angedeutete Faszination für Schwarzlicht-Malerei her hat. Dieses Hobby, das in „Orphan“ genutzt wird, um eine unbequeme Atmosphäre zu erzeugen, wird hier zu einem Subplot darüber, wie sehr ihr diese Kunstform, in der es stets eine verborgene, wahrhaftige Ebene gibt, aus dem Herzen spricht.
Am Ende sind Bell und Coggeshall dann aber doch vor allem an der schwarzhumorigen Absurdität dieser Geschichte interessiert, weshalb sich im letzten Drittel die Ereignisse auch derart überschlagen, dass „Orphan: First Kill“ zwar kürzer und kurzweiliger ausfällt als sein Vorgänger, gen Schluss aber auch an Atmosphäre und Spannung einbüßt. Dennoch erkämpft sich „Orphan: First Kill“ somit ein Element der Selbstständigkeit gegenüber dem Erstling und belegt, dass es eine kreative Berechtigung für eine Leena-Vorgeschichte gab.
Spannung generiert Coggeshall in seinem Skript derweil mit der Frage: „Wie kommt Leena bloß mit der Nummer davon?“ Denn Leena ist zu Filmbeginn noch längst nicht so eine erfahrene und überzeugende Betrügerin wie in „Orphan“, so dass zwar der Endpunkt des Prequels bekannt ist, es aber unvorhersehbar bleibt, wie der Film dorthin gelangen soll. Diesen unklaren Weg bespickt Coggeshall mit einem selbstbewusst-haarsträubenden Twist inklusive Konsequenzen, die Bells Inszenierung zwischen amüsant und nervenaufreibend ausbalanciert.
Auch Julia Stiles trägt dazu bei, dass dieser tonale Balanceakt funktioniert. Nicht zuletzt, weil sie Tricia als so wahnsinnig-froh über die Ankunft ihres angeblich wiederentdeckten Kindes anlegt, dass jegliches potenzielle Logikloch auf Anhieb verpufft. Die an das Original angelehnte, bläulich-graue Farbwelt des Films wiederum wird dem Geschehen teilweise ähnlich verkrampft übergestülpt wie sich Leena Esthers Identität aneignet. In ihrer Gesamtheit bereichert die mit einem schmierigen Schleier versehene Bildsprache des „Possessor“-Kameramanns Karim Hussain „Orphan: First Kill“ aber um eine Wertigkeit, die derartige Grusel-Vergnügen derzeit selten aufweisen.
Wer „Orphan“ gesehen hat, weiß ja schon, wie „Oprhan: First Kill“ ungefähr enden muss – und trotzdem haben die Macher noch einen großen Twist im Köcher!
Allerdings bricht diese Wertigkeit immer wieder für kurze Augenblicke krachend in sich zusammen. Nämlich immer dann, wenn nicht Fuhrman als Leena zu sehen ist, sondern auf Körperdoubles gesetzt wird. Diese verkörpern zwar Leenas äußerliches Alter, versagen jedoch als Fuhrman-Doubles. Durch deutliche Unterschiede zum Beispiel in Kopfform und Schulterbreite wirken direkte Szenenabfolgen mit Fuhrman und ihren Doubles wie eklatante Anschlussfehler. Als stünde schlagartig nicht die Figur im Raum, die wir dort erwarten. Das ist ein Gefühl, dass „Orphan: First Kill“ mit etwas mehr Raffinesse glatt zu seinem Vorteil hätte nutzen können. Vielleicht gelingt das ja dann dem nächsten Teil der Reihe, wenn Isabelle Fuhrman mit 35 eine Sechsjährige spielt?
Fazit: Viel durchgeknallter und mit einer Extraportion Charakterzeichnung! Die Vorgeschichte zu „Orphan“ ist trotz Schönheitsfehler und einem überstürzten Finale zugleich lustiger und empathischer als das geradlinig-schaurige Original.