SCHAFE IM NEBEL
von Michael Grünwald / filmgenuss.com
Kleiner Tipp: Wenn man mal genug hat vom Einheitsbrei bei vorwiegend US-amerikanischen Filmen, lässt sich mit so einigen europäischen Produktionen auch des letzten Jahres frischen Wind durchs Oberstübchen blasen. Da sind innovative Arbeiten dabei, und falls aber keine Lust dazu besteht, das Filmschaffen akribisch zu durchforsten, braucht man nur übers Meer nach Norden schielen, auf eine bei Touristen sehr beliebten, unwirtlichen und von vulkanischen Aktivitäten überbeanspruchten Insel – nämlich Island. Von dort kommen garantiert und in regelmäßigen Abständen Filme, deren Inhalt und Machart zum Glück und bewusst nicht in Auftrag gegebenen Zuschaueranalysen unterliegen, sondern gegen den Strich und quergebürstet sind. Sie wollen weder gefällig sein noch ihre Geschichten auf Biegen und Brechen auserzählen. Es sind Filme, die über unerschlossenes Terrain querfeldein gehen, um auf andere Dinge zu stoßen. Dafür muss man neugierig genug sein. Und neugierig genug wird man auch bei Lamb, einem rustikalen Mysterydrama, das Mensch und Natur gegeneinander ausspielt.
Viel passiert nicht, hier irgendwo im Nirgendwo der Insel, an den Hängen schroffer Gebirgszüge – dort, wo sich stets der Nebel sammelt und man keine Handbreit weit sehen kann. Dort leben die Schafzüchter Maria und Ingvar in trauter und trostloser Zweisamkeit, gemeinsam mit einer Herde an blökendem Nutztier, denen am Weihnachtsabend Seltsames widerfährt. Eines Tages im Frühling, als das große Werfen beginnt, kommt ein Jungtier zur Welt, dass anders aussieht als alle anderen. Es ist halb Mensch, halb Schaf – ein kniehoher Mini-Minotaurus ohne Hörner und mit viel Schlafbedürfnis. Das Ehepaar sieht in diesem Wunder einen Segen und betrachtet das Wesen fortan als Teil der Familie. Pétur, der Bruder des Ziehvaters, der eines Tages antanzt, traut seinen Augen nicht und interveniert zugunsten der Vernunft.
Letztes Jahr lief Lamb im Rahmen des Slash Filmfestivals in Wien – nun, endlich, ist dieser von mir heiß ersehnte Streifen auch an den regulären Kinos gestartet. Was man erwarten darf, ist höchst lakonisches Kino aus dem Norden. Viel gesprochen wird nicht, dafür umso mehr haben die Schafe und Lämmer das Sagen, während das irritierende Wunderwesen meist nur einzelne Laute von sich gibt. Ein bisschen Eraserhead, ein bisschen Jan Svankmajer schwingt mit – mit Midsommar gibt’s bis auf den Blumenkranz auf Adas Haupt (so der Name des Lamms) keine Gemeinsamkeiten. Noomi Rapace gibt eine zurückhaltende Performance, und irgendwie ist jeder aufgrund der landschaftlichen Einschicht nicht ganz auf der Höhe. Um diese Atmosphäre des Weltfremden, aber Naturverbundenen zu erzeugen, lässt sich Valdimar Jóhannsson jede Menge Zeit. Zumindest Anfangs. Der Plot seiner Geschichte ist im Grunde faszinierend, ambivalent und bizarr. Klar lässt sich da jede Menge rausholen und auf die Metaebene wuchten, die das Verhältnis des Menschen zur Natur grimmig beleuchtet. Das Mischwesen als zerrissener Weltenvermittler wäre eine wunderbare Allegorie auf unser Verständnis für den blauen Planeten – jedoch fällt dem Filmemacher das Potenzial nicht gerade in den Schoß. Er weiß zwar, wohin der rote Faden seiner Fabel führt, folgt ihm aber zeitweise nur ungern, sondern holt sich dramaturgisch erprobte Lückenfüller, welche die Story aber nicht voranbringen, sondern vielmehr aufweichen. Es ist wie das Warten auf den großen Knall, der vielleicht dieses auf folkloristischen Mythen basierende Mysterium lüften kann. Meiner Erfahrung nach braucht man im Kino Islands auf so etwas nicht hinfiebern. Wie in der stilistisch verwandten Netflix-Serie Katla ist das Metaphysische in dieser Welt einfach da und stets plausibel. Mehr muss man nicht wissen. Was man bei Lamb jedenfalls erfährt, ist eine kuriose Situation des Unnatürlichen, die den Besuch im Kino erstmal lohnt, sich aber viel zu lange ziert, auf Konfrontation zu gehen.
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