Netflix‘ raubt seinem Skandal-Franchise alles Skandalöse
Von Benjamin HechtDie polnische Erotik-Romanze „365 Days“ von Barbara Bialowas und Tomasz Mandes, in dem eine Touristin von einem Mafioso entführt und so lange gefangen gehalten wird, bis sie sich in ihn verliebt, war im Jahr 2020 der weltweit meistgeschaute Netflix-Film. Und das nicht trotz, sondern gerade wegen der Mainstream-tauglichen Verpackung von ansonsten tabuisierten Sexfantasien.
Der Nachfolger startet nun unter anderen Vorzeichen. Denn „365 Days 2: Dieser Tag“ wurde diesmal nicht von Netflix fertig gekauft, sondern direkt in dessen Auftrag produziert. Der auf sein progressives Image bedachte Streaming-Dienst fährt die frauenverachtenden Implikationen von Teil 1 deshalb deutlich zurück. Das Ergebnis: Ein weichgespülter Erotik-Film, der ohne die perverse Prämisse seines Vorgängers zwar weniger skandalös, dafür aber auch weniger unterhaltsam ist.
Obwohl sich Laura (Anna Maria Sieklucka) und Massimo (Michele Morrone) auf ungewöhnliche Weise "kennengelernt" haben, stellt sich auch bei ihnen nach der Hochzeit eine gewisse sexuelle Routine ein.
„365 Days 2“ startet mit der Hochzeit zwischen Laura (Anna Maria Sieklucka) und Mafiaboss Massimo (Michele Morrone), ihrem einstigen Entführer und jetzigen Verlobten. Das Baby, das die damals noch schwangere Laura am Ende von „365 Days“ ankündigte, ist nie auf die Welt gekommen. Die angehende Braut hat es bei dem von einer verfeindeten Mafiaorganisation verursachten Autounfall, der in Teil 1 als Cliffhanger fungierte, verloren.
Doch wie es nach der Hochzeit mitunter nun mal so ist, lassen die großen Gefühle langsam nach. Routine schleicht sich ein. Und als Laura dann auch noch Massimo beim vermeintlichen Fremdgehen erwischt, flüchtet sie sich in die Arme des attraktiven und einfühlsamen Gärtners Nacho (Simone Susinna)...
Die ersten 30 Minuten von „365 Days 2: Dieser Tag“ sind kompletter Mist. In der Anfangsphase des Films gibt es noch nicht mal eine nennenswerte Handlung: Abwechselnd sehen wir Laura und Massimo sowie Lauras Freundin Olga (Magdalena Lamparska) und deren Liebhaber Domenico (Otar Saralidze) einfach nur beim Sex zu. Untermalt von einer Popmusik-Sülze, die nicht nur jede erotische Atmosphäre im Keim erstickt, sondern einem auch das Gefühl vermittelt, man wäre in einer generischen Musikvideo-Playlist gelandet.
Im ersten Akt scheinen alle Figuren wirklich ausschließlich Sex im Kopf zu haben. Dialoge zwischen dem Gerammel sind rar gesät, schnell abgehandelt und bis auf Lauras Enthüllung, dass sie ihr ungeborenes Kind verloren hat, vollkommen inhaltsleer. Selbst die vermeintliche Kernkompetenz von „365 Days“, nämlich die Erotik, enttäuscht. Das auch fürs Skript verantwortlich zeichnende Regie-Duo Tomasz Mandes und Barbara Bialowas bietet in ihrer Fortsetzung nichts, was es nicht schon im Vorgänger zu sehen gab, SM-Sex gibt es abgesehen von einer Nicht-der-Rede-wert-Fessel-Nummer gar nicht mehr – und dass diesmal jemand, wie damals beim ersten Teil, ernsthaft auf die Idee kommt, dass der betuliche Hochglanz-Sex echt sein könnte, können wir uns bei der Fortsetzung deshalb eher nicht vorstellen.
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Zudem wird sich überhaupt keine Zeit dafür genommen, eine erotische Stimmung aufzubauen. So versenkt der ungeduldige Massimo seinen Lümmel schon in Minute drei (!) in seiner baldigen Ehefrau. Etwas Zeit fürs Vorspiel hätte dem Film sicher gutgetan, Hektik ist der Erotik eben einfach nicht dienlich...
Nach einer halben Stunde tritt dann endlich Nacho auf den Plan, der sich als neuer Gärtner bei Laura vorstellt. Auch wenn das erste Aufeinandertreffen der beiden (wie alles in diesem Film) sehr plump daherkommt, so sprühen nach all dem Leerlauf dann doch endlich die Funken. Nacho bringt tatsächlich die Anziehungskraft mit, die Massimo einfach nicht mehr bieten kann. Er tritt Laura auf Augenhöhe gegenüber und umgarnt sie feinfühlig und mit Humor. Die Annäherung vollzieht sich in einem weniger lächerlich überhasteten Tempo (Stichwort: Vorspiel), sodass es zwischen den beiden dann tatsächlich auch mal knistert...
Im Gegensatz zu Massimo muss Gärtner Nacho (Simone Susinna) Laura nicht entführen, um sie von sich zu begeistern.
Währenddessen nimmt die Handlung von „365 Days 2“ endlich an Fahrt auf: Es gibt einen bescheuerten, aber immerhin unterhaltsamen Twist – und durch den parallel verlaufenden Mafia-Machtkampf, der von ungewissen Loyalitäten geprägt ist, kommt kurzzeitig sogar so etwas wie Spannung auf, die dann aber in einem allzu klischeebeladenen und schlecht geschauspielerten Finale untergeht...
Als krasser Kontrast zum notgeilen Einstieg des Films, kommt die letzte halbe Stunde mit nur einer einzigen Mini-Sex-Szene aus! Der kaum erotische Erotikfilm wird so zum lächerlichen Mafia-Thriller, in dem vor allem Michele Morrone mit schwer erträglichem Overacting negativ auffällt. Anschließend folgt wie schon bei Teil 1 ein Cliffhanger, dessen offenes Ende keinen dramaturgischen Sinn erfüllt, sondern einfach nur dazu dient, das Netflix-Publikum schon mal für „365 Days 3“ in die „richtige Stimmung“ zu bringen…
Fazit: Was bleibt von einem Skandalfilm ohne Skandal? Wer „365 Days 2“ aufgrund der Erotik schaut, wird enttäuscht sein – und alle anderen ebenso!