Trotz der epischen Länge alles andere als trocken!
Von Michael MeynsIrgendwo im tiefsten Anatolien bahnt sich ein Mann seinen Weg durch die schneebedeckte Landschaft. Allein kämpft er mit der Natur und mit sich selbst. Von dieser ersten Einstellung an ist unverkennbar, dass man sich in einem Film des für „Winterschlaf“ mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichneten Nuri Bilge Ceylan befindet – und das heißt, dass man in den folgenden 197 Minuten latent misanthropische Männer mit sich selbst hadern sehen und dabei mit einem enormen Fluss an Gedanken und Ideen konfrontiert wird.
Denn solch ein archetypischer Ceylan-Protagonist steht nun auch im Mittelpunkt von „About Dry Grasses“, dem neuen Film des schon seit Jahren bedeutendsten türkischen Auteurs überhaupt. Auch diesmal wird drei Stunden lang geredet und diskutiert, wenn nicht gerade ein Mann einsam vor weiten Landschaften steht und mit seinem Schicksal hadert. Klingt langweilig und anstrengend, ist aber ungemein dicht und intensiv und aufregend – Autor*innen-Kino im besten Sinne, also eines, auf das man sich schon auch einlassen muss, durch das man dann aber auch umso reichlicher belohnt wird.
In einer abgelegenen Kleinstadt mit überwiegend kurdischer Bevölkerung, irgendwo im Osten der Türkei, unterrichtet Samet (Deniz Celiloglu) an einer Provinzschule. Ein Traumjob ist der Posten zwar nicht, und eigentlich will er sich auch so schnell wie möglich nach Istanbul versetzen lassen – und dennoch behandelt der Kunstlehrer seine Schüler*innen mit Sympathie, gerade weil ihm bewusst ist, dass die kurdischen Kinder in der Türkei wenig Chancen haben, etwas aus ihrem Leben zu machen.
Doch eines Tages beschuldigt ausgerechnet seine Lieblingsschülerin Sevim (Ece Bagci) ihn und seinen Kollegen und Mitbewohner Kenan (Musab Ekici), sich ihr und einer Mitschülerin gegenüber ungebührlich verhalten zu haben. Anschuldigungen, die schnell das Ende der Karriere bedeuten könnten. Parallel dazu lernt Samet die Lehrerin Nuray (Merve Dizdar) kennen, die an einer anderen Schule unterrichtet und die eines ihrer Beine bei einem Terroranschlag verloren hat. Wirkliches Interesse an Nuray entwickelt der eifersüchtige Samet jedoch erst, als Kenan ihr Avancen macht…
Mit allem hätte Samet (Deniz Celiloglu) gerechnet – aber nicht damit, dass sich ausgerechnet seine Lieblingsschülerin Sevim (Ece Bagci) über ihn beschwert.
Es gibt Drei-Stunden-Filme und es gibt Drei-Stunden-Filme: Denkt man etwa an „Avatar 2“, bei dem allein die finale Actionsequenz fast ein Drittel der Laufzeit verschlingt, ist das natürlich ein ganz anderes Kinoerlebnis als die (mindestens) drei Stunden, die viele der Filme von Nuri Bilge Ceylan für sich beanspruchen: Bei dem türkischen Meisterregisseur darf man keine Spannung im klassischen Sinn erwarten, keine Zuspitzungen, keine Auflösung und schon gar nicht so etwas wie ein Happy End. Stattdessen arbeitet Ceylan auch mit seinem mittlerweile neunten Langfilm, dessen fast schon selbstironischer Titel „About Dry Grasses“ zugegeben nach „Farbe beim Trocknen zusehen“ klingt, weiter an einem zunehmend immer komplexeren, auf spannende Weise herausfordernden Bild einer gebrochenen Gesellschaft.
Dabei ähnelt sein Vorgehen in vielerlei Hinsicht eher literarischen als filmischen Vorbildern, nehmen wir etwa die zentralen Anschuldigungen: In der ersten Stunde ist die Frage, was eigentlich wirklich passiert ist und was jetzt mit den beiden Lehrern passieren wird, der klare Mittelpunkt des Films – so werden die Beschuldigten zum Direktor der Schulbehörde Anatoliens zitiert, sie diskutieren mit Freund*innen und Kolleg*innen die möglichen Konsequenzen. Doch dann wird dieser Erzählfaden irgendwann weitestgehend fallengelassen (der Direktor hatte eh schon angedeutet, dass man die Akte möglichst verschwinden lassen würde). Eine mögliche dramatische Zuspitzung bleibt aus, unmittelbare Konsequenzen gibt es weder für die Lehrer noch für die Schülerinnen.
Und so geht es weiter. Themen werden angerissen, in langen Gesprächen wird diese oder jene Frage diskutiert, und nach und nach formt sich ein Bild der türkischen Gesellschaft. Das man sich im kurdisch dominierten Teil der Türkei befindet, wird nur am Rande miterzählt – anfangs deutet die Präsenz eines gepanzerten Fahrzeuges an, wie fragil die Situation in dieser Region oft sein kann, doch dies bleibt der einzige Auftritt von Militär oder Polizei. Wichtige Hinweise versteckt Ceylan gern im Hintergrund, etwa wenn Samet und Kenan zusammen mit Nuray an einem Tisch sitzen: Gefilmt in einer einzigen langen Einstellung lässt der starre Bildausschnitt es wirken, als wäre Samet nicht Teil der Runde, sondern nur ein stiller Beobachter – er hört nur zu, doch in seinen Gesten lässt sich ablesen, dass ihn das oberflächliche Flirten seines Bewohners zunehmend stört.
Auf den ersten Blick mag dieser Senan zwar sympathisch und umgänglich wirken, immerhin inszeniert er sich auch seinen Schüler*innen gegenüber als der aufgeschlossene coole Typ aus der Großstadt, der genauso wenig Bock auf die verkrusteten Kleinstadtregeln hat wie sie; doch nach und nach erweist er sich als echter Misanthrop, der weder seinem Kollegen und Mitbewohner etwas gönnt, noch wirkliche Sympathien für seine kurdischen Schüler*innen hat, denen er als Kunstlehrer das Zeichnen beibringen soll: „Keiner von euch wird jemals interessante Kunst machen! Ihr werdet euer Leben damit verbringen, Kartoffeln und Zuckerrüben zu pflanzen!“, schnauzt Samet sie in einem Moment der Wut an, in dem er seine joviale Fassade fallenlässt.
Als Hauptfigur ist das Publikum automatisch versucht, sich mit Samet zu identifizieren, selbst dann noch, wenn deutlich geworden ist, dass er alles andere als ein netter Mensch ist. Geradeheraus schlecht ist er allerdings auch nicht – vielmehr ganz durchschnittlich, ohne Ambitionen oder das Bedürfnis, sich für eine größere Sache, etwa die Unterstützung der Kurden, einzusetzen. Zutiefst menschlich ist dieser Mann also, den Nuri Bilge Ceylan über drei Stunden beobachtet. Nicht immer bei sonderlich bemerkenswerten Dingen, sondern schlicht und einfach beim Leben – und das entwickelt dank Ceylans präzisem und am Ende trotz allem zutiefst humanistischem Blick eine durchgehend enorme Sogwirkung.
Fazit: Einmal mehr stellt der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan einen wenig sympathisch Mann, eigentlich sogar schon einen ausgemachten Misanthrop, in den Mittelpunkt eines Films. Mehr als drei Stunden lang beobachtet er in „About Dry Grasses“ das Leben eines Lehrers in der östlichen Türkei, was sich im ersten Moment womöglich banal anhören mag, aber nichtsdestotrotz enorm fesselt und selbst nach mehr als zwei Stunden noch mit der einen oder anderen völlig unerwarteten inszenatorischen Überraschung aufwartet.
Wir haben „About Dry Grasses“ beim Cannes Filmfestival 2023 gesehen, wo er in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.