Eine unerklärbare Tat
Von Jochen WernerAm 19. November 2013 nahm Fabienne Kabou gemeinsam mit ihrer 15 Monate alten Tochter Adélaïde den Zug von Paris in den Badeort Berck-sur-Mer. Zurück fuhr sie einen Tag später allein. Nachdem sie sich beim Personal ihres Hotels nach den Gezeiten erkundigt hatte, ging sie am Abend mit Adélaïde zum Strand, legte das Kind dort ins kalte Wasser, sah zu, wie die Wellen es davontrugen und reiste am nächsten Morgen unter dem Vorwand, der Vater habe es abgeholt und in den Senegal gebracht, wieder ab. Einen Tag später fanden Krabbenfischer die Leiche des Mädchens – und durch Aussagen des Hotelpersonals und Aufnahmen einer Überwachungskamera wurde Kabou schließlich festgenommen. Im Juni 2016 wurde sie von einem Schwurgericht in der kleinen Stadt Saint-Omer am Pas de Calais wegen Mordes zu einer Haftstrafe von 20 Jahren verurteilt. Im Gerichtssaal anwesend war unter anderem die wie die Angeklagte aus dem Senegal stammende Filmemacherin Alice Diop, die den Prozess nun verfilmt hat.
Die Protagonistin von „Saint Omer“ ist jedoch nicht die Kindsmörderin selbst, die hier den Namen Laurence Coly (Guslagie Malanda) trägt, sondern die junge Journalistin Rama (Kayije Kagame), eine Art Alter Ego der Filmemacherin. Durch einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund – die senegalesische Familiengeschichte und Erziehung ebenso wie das Leben als junge schwarze Frau in Frankreich und die (in Ramas Fall: werdende) Mutterschaft – verbunden, verspürt Rama eine eigenartige Faszination für das scheinbar unerklärliche Verbrechen, die sie dazu bewegt, nicht nur den Prozess zu verfolgen, sondern auch den Kontakt zu Laurences Mutter Odile (Salimata Kamate) zu suchen. Näher an eine Art des Verstehens bringt sie das allerdings nicht wirklich, wie auch, wenn die Täterin selbst vorgibt, ihr eigenes Verhalten nicht verstehen zu können und als Motiv lediglich Hexerei anzugeben weiß.
Die Performance von Guslagie Malanga im Zeugenstand, speziell wenn die Kamera minutenlang starr auf dem Gesicht der Kindsmörderin verharrt, ist zugleich berührend und gespenstisch.
Der erste Spielfilm von Alice Diop, die bis dato als – wenngleich mit ausgeprägten narrativen Elementen arbeitenden – Dokumentaristin bekannt war, orientiert sich recht streng an den Prozessakten des Falls Kabou. Trotzdem ist es weniger eine klassische fiktionalisierte Spielfilmerzählung oder gar ein reines Nachstellen der realen Gerichtsverhandlung, sondern eher eine Form von Autofiktion, an der sich Diop hier versucht – die filmische Entsprechung einer Form, die in der (nicht nur) französischen Literatur seit einigen Jahren sehr populär ist: Soziologie, Historiographie und Autobiographie – die eigene Geschichte und die Geschichten der anderen werden zwar parallel geführt, bedingen zugleich aber einander. Berühmte Beispiele dafür sind Bücher von bedeutenden Gegenwartsautoren wie Didier Eribon, Édouard Louis oder der frisch gekürten Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux.
In erster Linie erinnert „Saint Omer“ allerdings an einen wegweisenden Roman von Emmanuel Carrère, der sich 2000 mit „Der Widersacher“ als bereits durchaus arrivierter Autor für sein weiteres Schreiben eine neue literarische Form entwickelte. Wie Diop/Rama von einem grauenhaften und scheinbar unerklärlichen Kriminalfall fasziniert, suchte Carrère die Nähe des mehrfachen Mörders Jean-Claude Romand, der ein jahrelanges Doppelleben führte und, als dieses aufzufliegen drohte, seine Frau, seine Kinder und seine Eltern tötete und den Versuch, im Anschluss an die Taten Suizid zu begehen, schwerverletzt überlebte. Als Konsequenz aus dem Scheitern, Romands Geschichte als konventionellen Roman zu erzählen, brachte Carrère sich selbst als Protagonisten in sein Buch ein, erzählte und befragte seine eigene Faszination an diesem grauenhaften Verbrechen und seine Rolle als Gesprächspartner und Bezugsperson des inzwischen inhaftierten Romand ebenso wie dessen Biographie und den Tathergang.
Die Treffen der Journalistin Rama (Kayije Kagame) und der Mutter der Angeklagten zählen zu den stärksten Szenen des Films – driften am Schluss aber auch etwas unschön ins Esoterische ab.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt nun Alice Diop in „Saint Omer“, auch wenn insbesondere ihre Selbstbefragung, verkörpert durch die als Stellvertreterin der Regisseurin funktionierende Rama, doch viel näher an der Oberfläche bleibt. Vielleicht ist auch das Medium des Spielfilms schlichtweg weniger geeignet für solche dokumentarisch-autobiographischen Engführungen als die erzählende Literatur – etwas unbefriedigend bleibt es trotzdem, wenn die Protagonistin, deren persönliche Perspektive auf die True-Crime-Erzählung uns wohl eigentlich selbst einen individuellen Zugang zum vermeintlich Unverstehbaren eröffnen sollte, mindestens ebenso sehr leere Chiffre bleibt wie die enigmatische Täterin.
Dabei eröffnet der Film durchaus spannende Assoziationsräume, insbesondere in den Begegnungen zwischen der im vierten Monat schwangeren Rama und Odile, der gebrochenen Mutter der Mörderin, die scheinbar reglos dem Prozess gegen ihre Tochter beiwohnt. Da gibt es Momente, in denen unsichtbare Verbindungen zwischen den beiden so unterschiedlichen Frauen auch ohne Sprache spürbar werden. Umso ärgerlicher wirkt es dann aber, wenn zum Ende hin doch wieder die Sprache ins Spiel kommt und dort, wo zuvor die Dinge vielleicht mitunter einen Tick zu viel im Unausgesprochenen belassen wurden, nun plötzlich allzu deutlich verbalisiert und über die Mutterschaft an und für sich philosophiert wird: Über einen Austausch von Zellen während der Schwangerschaft trage jede Mutter Zellen ihrer eigenen Mutter wie ihrer Kinder im eigenen Leib, was sie zu einer Chimäre, einem Mischwesen mache. Monstren seien Mütter somit im Grunde alle, so der etwas arg esoterisch verbrämte Schluss, zu dem Diops ambitionierte und schauspielerisch starke, aber im Kern dann doch etwas zu sehr an der Oberfläche kratzende True-Crime-Autofiktion nach zwei Kinostunden kommt.
Fazit: In ihrem ersten Spielfilm schildert die bisher als Dokumentaristin bekannte Alice Diop einen grausamen Kriminalfall als autofiktionales Gerichtsdrama. „Saint Omer“ ist zwar schauspielerisch stark, geht aber in seiner Engführung der beiden Protagonistinnen nicht so ganz auf und kommt schließlich im Versuch, einen Abschluss für etwas eigentlich Unabschließbares zu finden, zu eher unangebracht wirkenden esoterischen Schlussfolgerungen.
Wir haben „Saint Omer“ beim Around The World In 14 Films Festival 2022 gesehen.