Den Twist werden die wenigsten kommen sehen
Von Lars-Christian DanielsDer Kölner „Tatort: Kaputt“ endete im Juni 2019 mit einer einschneidenden Erfahrung für Hauptkommissar Max Ballauf: Der altgediente „Tatort“-Ermittler, der schon seit 1992 in der Krimireihe auf Täterfang geht, musste eine verstörte junge Kripo-Kollegin erschießen, um so ein anderes Leben zu retten. Seither war dieses Ereignis in den Krimis aus Köln allerdings kein Thema mehr – Ballauf hat in seinen 28 Dienstjahren am Rhein schließlich schon so manchen Rückschlag weggesteckt und folgenübergreifende Drehbücher sind im Kölner „Tatort“ auch eher die Ausnahme. Nun knüpft der federführende WDR aber wider Erwarten noch einmal an diesen tragischen Fall an: In Isa Prahls „Tatort: Gefangen“ hat Ballauf schwer mit der Verarbeitung des traumatischen Ereignisses zu kämpfen. Das ist aber nur einer von mehreren Gründen dafür, warum dieser „Tatort“ so ungewöhnlich und sehenswert ausfällt: Statt der üblichen Kölner Krimikost nach Schema F wartet der Fall mit einem tollen Twist auf, der auch nach dem Abspann noch nachwirkt.
Hauptkommissar Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) kann sich nur schwer konzentrieren: Die junge Polizeibeamtin Melanie Sommer (Anna Brüggemann), die er vor einem Jahr im Dienst erschossen hat, erscheint ihm in Halluzinationen. Seine Sitzungen bei Polizeipsychologin Lydia Rosenberg (Juliane Köhler) lässt Ballauf regelmäßig ausfallen – zum Ärger seiner Kollegen Freddy Schenk (Dietmar Bär) und Norbert Jütte (Roland Riebeling). Ballauf wird nämlich dringend in Top-Form gebraucht: Professor Krüger (Thomas Fehlen), der Chefarzt einer psychiatrischen Klinik, wurde ermordet. Auch Borderline-Patientin Julia Frey (Frida-Lovisa Hamann) war bei ihm in Behandlung. Ihr Kind hat sie in die Obhut von ihrer Schwester Christine (Franziska Junge) und deren Mann Florian Weiss (Andreas Döhler) gegeben. Der gerät unter Tatverdacht: Der Arzt wurde mit Weiss‘ Waffe erschossen und sein Fingerabdruck wird auf der Armbanduhr des Toten nachgewiesen…
Irgendetwas geht auf der psychiatrischen Station nicht mit rechten Dingen zu...
Die gute Nachricht für Gelegenheitszuschauer: Wer den einleitend erwähnten „Tatort: Kaputt“ verpasst hat oder sich nicht mehr an den dramatischen Showdown erinnert, wird von den Filmemachern einleitend an die Hand genommen. Der tödliche Schuss, mit dessen Folgen Ballauf noch immer zu kämpfen hat, wird in (etwas kitschig inszenierten) Rückblenden illustriert und auch zwischen den Kommissaren ist der Einsatz mit Todesfolge natürlich Thema. So richtig kommt Schenk an seinen langjährigen Partner diesmal allerdings nicht ran und auch Polizeipsychologin Rosenberg, die zum siebten Mal im „Tatort“ aus der Domstadt zu sehen ist, beißt bei ihrem Ex-Lover auf Granit. „Lass uns einfach unseren Job machen“, keift Ballauf zurück, als Schenk ihm rät, sich seinem traumatischen Erlebnis endlich zu stellen.
Anders als in den „Tatort“-Folgen aus Dortmund oder Berlin ist der folgenübergreifende erzählerische Ansatz in einem Beitrag aus Köln die Ausnahme – doch das Drehbuch von Christoph Wortberg, der zum dritten Mal ein Skript für die Krimireihe geschrieben hat, ist noch aus einem weiteren Grund bemerkenswert. Standen die Filme mit Ballauf und Schenk in den vergangenen Jahren für solide, aber überraschungsarme Krimis nach erfolgserprobtem Rezept, zählt der „Tatort: Gefangen“ zu den originellsten Beiträgen der ersten Jahreshälfte 2020. Das lässt sich knapp einen Monat vor der Sommerpause, die wegen der durch die Corona-Pandemie entstandenen Engpässe bei den Dreharbeiten notgedrungen bis Ende August dauern wird, bereits resümieren – dabei sieht anfangs noch alles nach den altbewährten Routinemanövern aus.
Denn auch im 1132. „Tatort“ beginnt alles so übersichtlich und durchgeplant, wie man es bei Ballauf und Schenk gewöhnt ist: Dem einleitenden Leichenfund folgen die Erkenntnisse von Rechtsmediziner Dr. Roth (Joe Bausch) und Befragungen im Umfeld des Opfers – ehe der Weg der Kommissare, die die üblichen Fragen nach Alibis und möglichen Mordmotiven durchexerzieren, auch zu Bekannten des Toten und in einen Tennisclub führt. Bedeutungsschwangere Blicke, kleinere Ungereimtheiten in den Aussagen der Verdächtigen und einige Szenen hinter dem Rücken der Kommissare geben Hinweise auf den möglichen Mörder – und nach einer guten Stunde scheint der Fall dann sogar schon gelöst. Wie so häufig im „Tatort“ liest sich die Indizienlage gegen eine der tatverdächtigen Personen so erdrückend, dass ein Geständnis nur noch Formsache zu sein scheint.
Wer die richtige Auflösung in diesem stimmungsvoll inszenierten Whodunit von „Tatort“-Debütantin Isa Prahl („1000 Arten den Regen zu beschreiben“) vorzeitig errät, dem dürfen allerdings fortgeschrittene Krimi-Kenntnisse attestiert werden – denn im Schlussdrittel kommt vieles anders, als es anfangs den Anschein hat. Durch den tollen Twist entfaltet der Film auf der Zielgeraden erst so richtig seinen Reiz, was auch daran liegt, dass er von starken Darstellern – allen voran die im „Tatort“ noch angenehm unverbrauchte Frida-Lovisa Hamann („Die Vierhändige“) als psychisch labile Borderline-Patientin – getragen wird. Der aufmüpfige Patient Ringo (Konstantin Gerlach) springt dafür mit einigen Lachern in die Bresche, die in Köln eigentlich auf das Konto des gemütlichen Assistenten Norbert Jütte gehen. Der hält sich bei seinem achten „Tatort“-Einsatz zurück.
Max Ballauf reagiert sich auf dem Schießstand ab - während ihm die von ihm bereits vor einem Jahr erschossene Polizistin noch immer über die Schulter schaut.
Kleinere Schwächen im ansonsten so überzeugenden Drehbuch finden sich aber doch: Es scheint ein ungeschriebenes „Tatort“-Gesetz zu sein, dass Journalisten und Juristen in der Krimireihe stets in ein negatives Licht rücken müssen. Diesmal trifft es Rechtsanwalt und Porschefahrer Weiss, der die Kommissare hochnäsig abblitzen lässt und moralischen Fragen keinen hohen Stellenwert zurechnet. Seine undurchsichtige Gattin würdigen die Filmemacher keines näheren Blickes, obwohl sie in diesem „Tatort“ eine Schlüsselrolle einnimmt – und auch das Wiedersehen zwischen Ballauf und Psychologin Rosenberg, die früher bisweilen nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Bett geteilt haben, bietet keinen nennenswerten Mehrwert. Ballaufs anfangs so wichtig erscheinendes Trauma rückt nämlich bald in den Hintergrund und wird erst spät wieder aufgegriffen – was aber kein Drama ist, denn der Clou dieser „Tatort“-Folge liegt woanders.
Fazit: Gelungener Kölner „Tatort“ mit überraschender Schlusspointe und kleineren Schwächen im Drehbuch.