DAS LEBEN FEIERN BIS DER ARZT KOMMT
von Michael Grünwald / filmgenuss.com
Das Melodrama ist zurück! Schon lange habe ich im Kino keinen Film mehr gesehen wie diesen. Man hätte ja meinen können, dieses Genre gilt bisweilen als obsolet, und lediglich Romanzen der jugendlichen Sorte, die gerne gewissen erfolgsgarantierten Formeln folgen, hätten ihr Publikum. Normalerweise lasse ich mich zum Melodrama nicht unbedingt hinreißen. Die ersten Echos aus diversen filmkritischen Quellen haben mich dann doch dazu bewogen, mir Warten auf Bojangles anzusehen. Und das nicht zuletzt wegen der so charismatischen wie sinnlichen Hauptdarstellerin Virginie Efira und vor allem auch wegen den zaghaften, aber doch vorhandenen Vergleichen mit Der fabelhaften Welt der Amelie.
Nun, eine auch nur irgendwie geartete Verbindung zu letzterem konnte ich nicht feststellen. Mit Jeunets märchenhafter Bildsprache hat Warten auf Bojangles weniger etwas zu tun, sondern viel mehr mit Geschichten, die von der Koexistenz mit psychisch kranken Menschen erzählen. In diesem Fall gibt Virginie Efira, zuletzt ausgiebig hüllenlos in Paul Verhoevens Klosterdrama Benedetta, einen manisch-depressiven Wirbelwind, der mit allen möglichen Namen, nur selten mit dem eigenen, angesprochen und darüber hinaus gesiezt werden will. Auch vom Gatten Romain Duris und ihrem kleinen Sohn. Da erkennt man schon: diese verlorene Seele wird wohl allein mit der innerfamiliären Liebe, die ihr entgegengebracht wird, nicht gesunden können. Da braucht es andere Methoden. Das Wissen der Psychiatrie. Doch inmitten der Sechziger Jahre wähnte diese sich noch mit Sedativen und Eisbädern auf der sicheren Seite. Hilft gar nichts mehr, dann nur noch die Lobotomie. Bevor es jedoch soweit kommt, ist das ausschweifende Partyleben der beiden bedingungslos Liebenden auch eine Art Peter Pan-Abenteuer für den kleinen Gary (bezaubernd: Solan Machado-Graner), der sich trotz der oder gerade wegen der unorthodoxen Wunderwelt, die seine Eltern da errichtet haben, so richtig geborgen fühlt. Das Leben zu genießen und im Moment zu leben, ist eine Sache. Durchaus lobenswert natürlich, aber nicht ausschließlich. Die andere Sache ist das Entgleiten einer verantwortungsvollen Existenz, ohne die ein Leben unweigerlich im Chaos mündet.
Régis Roinsard (unbedingt ansehen: Mademoiselle Populaire – ein bezauberndes kleines Meisterwerk) hat Olivier Bourdeauts bittersüßen Roman wie eine schwerelos-überzeichnete und stellenweise auch rücksichtslos überdrehte französische Komödie adaptiert, die, sobald das Dilemma offenbar wird, zwar deutlich tragischer und ernsthafter wird, jedoch niemals in seiner existenzialistischen Schwere versinkt. Diese Leichtigkeit gäbe es in anderen Filmnationen wohl nicht. In Warten auf Bojangles, bezugnehmend auf das wiederholt zu hörende, schmachtvolle Lieblingslied des nonkonformen Liebespaares, lädt die Unmöglichkeit, mit einer massiven Krankheit wie dieser glücklich in die Zukunft hineinzuleben, zu eskapistischen Kapriolen ein. Dabei wundert es gar, dass der Film nicht in eine phantastische Alternativwelt abgleitet – insbesondere für den kleinen Gary. Der Junge ist letzten Endes der eigentlich Leidtragende der ganzen Tragödie, und der Verlust elterlicher Obhut führt zur Entrüstung, welche die sonst gelungene, teils untröstliche, weil traurige Tragikomödie unverstanden in den Abspann entlässt.
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