Mein Konto
    John Wick: Kapitel 4
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    John Wick: Kapitel 4

    Action-Spektakel für Movie Watcher!

    Von Björn Becher

    Aus einer Diskussion im Podcast „Action For Everyone“ entstand im Frühjahr 2022 die Unterscheidung zwischen einem Script Watcher und einem Movie Watcher. Das Fazit: Der Script Watcher, der sich vor allem an die Nachvollziehbarkeit der Handlung klammert, wird mit vielen Actionfilmen einfach weniger Spaß haben. Von diesem Hang zur Logik solle man sich besser befreien und stattdessen einfach genießen, wenn etwas geil aussieht – und dann darf es eben auch ruhig übertrieben, hyperstilisiert oder gar vollkommen gaga sein. Wer Actionfilme dreht, sollte ohnehin immer zuerst der visuellen Brillanz jeder einzelnen Sequenz verpflichtet sein! Stimmt auch: Schließlich sitzen wir nicht im Buchclub, sondern im Kino und wollen große, im besten Fall überwältigende Bilder sehen.

    Auf Chad Stahelski trifft diese Beschreibung auf jeden Fall zu. So hat der ehemalige Stuntman, seit er ab „John Wick: Kapitel 2“ allein das Regie-Zepter schwenkt, das Franchise immer wieder zu neuen grandios-absurden Höhen geführt. Wenn in der Auftaktszene von „John Wick: Kapitel 4“ eine Benzinspur auf dem Fußboden angezündet wird, ergibt das wenig Sinn: Warum zur Hölle wurde da überhaupt ein Ring mit brennbarer Flüssigkeit ausgelegt? Wenn dann aber die Flammen lodern, sieht es schlichtweg bombastisch aus – ein effektiver Kontrast zur Titelfigur, die sich gerade die Fäuste an einem Trainingsgerät blutig schlägt. Dieser unbedingte Stilwille hat den größten Teil Anteil daran, dass die „John Wick“-Reihe auch nach diesem brutalen (und für das Genre ungewöhnlichen langen) Teil das beste Hardcore-Actionfranchise unserer Zeit bleibt.

    Jede Actionszene in "John Wick 4" hat einen visuell beeindruckenden Schauplatz.

    Nach einer Ruhepause im Untergrund kehrt John Wick (Keanu Reeves) ans Tageslicht zurück – und wie: Er spürt direkt den Ältesten (George Georgiou) in der Wüste Jordaniens auf und richtet ihn kompromisslos hin. Das lässt sich die Geschicke aller Geheimorganisationen leitende Hohe Kammer natürlich nicht bieten: Dem durchtriebenen Marquis de Gramont (Bill Skarsgård) werden als „Imperator“ alle Sonderrechte eingeräumt, um endlich für Ordnung zu sorgen. Und so beginnt er damit, all jene zu bestrafen, die John Wick geholfen haben – etwa indem das New Yorker Continental-Hotel von Winston (Ian McShane) direkt in die Luft gejagt wird.

    In seinem Versteck im Continental-Hotel seines alten Freundes Shimazu (Hiroyuki Sanada) in Osaka wird John Wick zudem durch die Einsatztruppe des Marquis, angeführt von dem Hünen Chidi (Marko Zaror), aufgestöbert – und so ist schon bald wieder die halbe Welt hinter ihm her. Unter den Verfolger*innen ist auch ein Niemand (Shamier Anderson), der sich mit dem Kill einen Namen machen will, aber erst mal noch genüsslich abwartet, bis das auf Wick ausgesetzte Kopfgeld noch um ein paar Millionen steigt. Aber der einzige Mann, der Wick wohl wirklich ebenbürtig ist, bleibt der blinde Caine (Donnie Yen), der zwar ebenfalls schon längst aus dem Geschäft ausgestiegen war, aber nun vom Marquis gezwungen wird, seinen einst besten Freund zu töten…

    Erst mal ruhig angehen

    Kann man einen Actionfilm überhaupt noch besser beginnen als „John Wick: Kapitel 3“? Der startet mit einem voranschreitenden Countdown, bei dem sich der rennende Titelheld plötzlich in einem Überlebenskampf gegen gefühlt ganz New York wiederfindet. Eine abgefahrene Tötungsszene jagt die nächste – mit einer langen Auseinandersetzung in einem historischen Waffenmuseum als Höhepunkt. Diesen High-Speed-Auftakt versucht Stahelski in Teil 4 nun aber gar nicht erst zu überbieten, sondern startet trotz einer rasanten Wüstenverfolgungsjagd zu Pferd fast schon entschleunigt.

    Da werden erst mal die verschiedensten Figuren eingeführt und munter zwischen New York, Jordanien, Paris und Oasaka die Schauplätze gewechselt, bis es im japanischen Continental-Hotel zur ersten, sehr langen Actionsequenz mit den für die Reihe so legendären Nah-Distanz-Kopfschüssen im Dutzend kommt. Dabei erinnert diese Sequenz auf den ersten Blick stark an das Finale von „John Wick 3“, wo der Titelheld im New Yorker Ableger der Hotelkette ebenfalls ein bestens mit kugelsicheren Rüstungen ausgerüstetes Einsatzkommando der Hohen Kammer niedermetzeln musste. Das Finale von „John Wick 4“ erinnert derweil als Kampf gegen die Uhr in den Straßen einer Metropole sehr an den gerade beschriebenen Auftakt des vorherigen Films.

    Der kugelsichere Maßanzug darf natürlich auch in "John Wick 4" nicht fehlen.

    Ja, Chad Stahelski greift gleich mehrfach auf Motive zurück, die wir aus der vorangegangenen Trilogie schon kennen. Da hat zum Beispiel der Wick verfolgende Niemand einen Schäferhund, der in den Actionszenen von seinem Herrchen sehr ähnlich eingesetzt wird wie seine beiden Artgenossen von Halle Berrys Sofia im Vorgänger. Und auch das Kopfschüsse-Verteilen inmitten einer tanzenden (und teilweise wenig beeindruckten) Disco-Meute, welches schon im allerersten Teil ausgiebig zelebriert wurde, wird wieder aufgegriffen. Aber wer nun denkt, dass sich Stahelski einfach nur wiederholt, der irrt gewaltig.

    Stattdessen findet Stahelski immer wieder einen Dreh, das Bekannte auf eine neue Art und Weise spektakulär zu inszenieren. Eine Auseinandersetzung von Wick und Verfolgern in einem leer stehenden Haus wird mit langen One-Shot-Einstellungen aus der Luft gefilmt. In der Vogelperspektive beobachten wir fast wie auf einem sich nach und nach offenbarenden Spielbrett, wie sich all die Kontrahenten durch die verschiedenen Räume bewegen, auf John Wick treffen und dann blutig gekillt werden.

    Krachbumm im Schatten des Eifelturms

    Daneben gibt es eine sensationelle Actionszene auf dem berühmten Kreisverkehr rund um den Pariser Triumphbogen. Mit 240 Metern Durchmesser und zwölf (!) Fahrspuren ist der Place Charles de Gaulle der größte Kreisverkehr Frankreichs. Wer hier schon mal war, kennt das Chaos, das hier alltäglich herrscht. Schon da ist es ein Wunder, dass es nicht im Minutentakt kracht. In „John Wick 4“ gibt es nun mitten auf dieser Straße bei vollem Verkehr eine mehrere Minuten lange Auseinandersetzung, die ein Meisterwerk moderner Stunt-Arbeit ist. Reihenweise rasen hier Autos an in letzter Sekunde innehaltenden Menschen vorbei oder erwischen diese mit voller Wucht und schleudern sie durch die Luft.

    Und mittendrin gibt es das bekannte, auch in diesem Teil wieder ausgesprochen brutale Töten mit jeder denkbaren Waffe, die gerade greifbar ist oder zumindest irgendwie improvisiert werden kann. Immer wieder werden solche Sequenzen auch (trocken-)humorig gebrochen, wenn sich Wick etwa die berühmten Treppe hoch auf den Berg zur Kirche Sacré-Cœur kämpfen muss – wobei hier, wie bei vielen kurzen amüsanten Einschüben, auch Donnie Yen voll in seinem Element ist: Der Martial-Arts-Superstar ist das Highlight von „John Wick 4“! Der nicht nur zu den größten Action-Könnern, sondern auch zu den besten Choreografen der Welt gehörende Yen denkt ähnlich wie Stahelski zuerst einmal daran, was einfach gut und atemberaubend aussieht. Und das ist bei jeder einzelnen Sekunde mit ihm in diesem Film gelungen.

    Einst John Wicks bester Freund, nun sein Gegner: Donnie Yen als Caine.

    Macht es Sinn, dass Yen, der u. a. bereits im „Star Wars“-Film „Rogue One“ einen blinden Kämpfer verkörperte, trotz fehlender Sehkraft ein ebenbürtiger Gegner für Wick ist? Schließlich muss er bei einer ihrer regelmäßigen Auseinandersetzungen sogar ahnungslos in den Raum fragen, ob der gerade kurz ausgeknockte John denn nun tot sei. Macht es natürlich eigentlich nicht. Aber die Frische dieses Elements ist das Entscheidende. Wie sich Caine in der einen Sekunde noch mit seinem Stock orientiert, um in der nächsten mit der darin enthaltenen scharfen Klinge die Gegner aufzuschlitzen, oder er kleine Bewegungsmelder installiert, um bei ihrem Klingeln direkt einen Kopfschuss in die richtige Richtung abzufeuern, ist stilistisch ganz große Klasse (und macht natürlich auch einfach gehörig Laune).

    Chad Stahelski feiert einfach die unterschiedlichen Facetten des Actionkinos in „John Wick 4“ ab: Da bekommt neben Yen auch der chilenische Kampfkünstler Marko Zaror („Undisputed III: Redemption“) als nicht tot zu kriegender Hüne seine Chance, auch mal in einem großen Hollywood-Film und nicht nur in einem B-Movie zu strahlen. Und der aktuell vielleicht beste Direct-to-Video-Action-Star Scott Adkins mischt auch mit – wobei der Brite als deutscher (!) Gangsterboss in einem Fatsuit kaum noch wiederzuerkennen ist. Wenn er trotz seines Körperumfangs Kicks platziert, ist das beeindruckend. Wie die Rolle unserer Hauptstadt als Schauplatz (inklusive des Cameos eines Kult-Berliners) hätte aber auch Adkins' Part ruhig noch etwas größer ausfallen dürfen.

    Selbst 169 (!) sind uns noch nicht genug

    Ja, „John Wick 4“ hätte wirklich ruhig noch länger sein können. Natürlich ist die Laufzeit von zwei Stunden und 49 Minuten für die recht geradlinige Actiongeschichte von Shay Hatten („Army Of The Dead“) und Michael Finch („American Assassin“) eigentlich völlig absurd. Aber es wird trotzdem nie langweilig. Die ausufernden Actionsequenzen sowie die Dialoge darüber, warum Wick denn nun in welche Stadt reisen muss und welches Symbol in dieser Parallelwelt der Geheimgesellschaften nun was genau zu bedeuten hat, ergeben eine stimmige Mischung. Einige kleine Leerlaufmomente sind zwar im Mittelteil vorhanden, aber schnell genug vorbei. Nur wer die Vorgänger nicht kennt, ist im falschen Film und wird oft nur Bahnhof verstehen.

    Dass selbst die mit ihrer (Bullshit-)Mythologie aufgeladenen Erklärszenen um besondere Rituale und Duelle ihren ganz eigenen Reiz haben, liegt ebenfalls am unbedingten Stilwillen von Stahelski. Da spielt eine simple Unterhaltung zwischen zwei verfeindeten Parteien über eine uralte Regel, welche John Wick die Möglichkeit auf Freiheit eröffnet, eben nicht in einem kalten Büroraum oder auf einem Hinterhof, sondern im Louvre. Da dominieren plötzlich die übergroßen Meisterwerke berühmter Maler den Bildausschnitt und lassen die sich davor zankenden Menschen wie winzige Nichtigkeiten wirken. So wird auch diese Szene für sich zu einem eigenen Kunstwerk – wie so vieles an diesem blutig-brutalen Actionkracher.

    Fazit: „John Wick: Kapitel 4“ ist ein weiteres Kunstwerk des modernen Actionkinos. Die für die rechte simple Geschichte ausufernde Laufzeit von fast drei Stunden erweist sich entgegen aller Wahrscheinlichkeit als (fast) völlig berechtigt, weil einfach jeder Moment – von der vermeintlich simplen Dialogszenen bis zum großen Action-Feuerwerk – schlichtweg saugeil aussieht.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top