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    Disco Boy
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Disco Boy

    Tanzen statt Töten

    Von Christoph Petersen

    Zwei Männer, die nur kämpfen, um eine (wirtschaftliche) Zukunft zu haben: Der aus Weißrussland stammende Aleksei (Franz Rogowski) hat illegal die EU durchquert, um sich in Frankreich der Fremdenlegion anzuschließen. Fünf Jahre muss er nun in der Elite-Einheit dienen, dann erhält er automatisch die französische Staatsbürgerschaft. Der aktivistische Jomo (Morr Ndiaye) führt unterdessen eine Guerillatruppe an, die im Nigerdelta französische Ölarbeiter entführt. So soll die eigene Regierung gestoppt werden, weiterhin gemeinsam mit ausländischen Investoren einen Raubbau zu betreiben, der nicht nur die Natur zerstört, sondern auch die Landwirtschaft und die Fischerei in der Gegend unmöglich macht.

    Irgendwann werden sich die zwei Männer in Giacomo Abbruzzeses Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Disco Boy“ gegenüberstehen – und in diesem Moment die ganze Sinnlosigkeit und Absurdität solcher Auseinandersetzungen symbolisieren. Dazu kommen Szenen, die eine erbitterte Anklage an das ausbeuterische Kolonialsystem erheben – so erhält Aleksei, als er ein brennendes Dorf voller Frauen und Kinder entdeckt, von seinem Vorgesetzten den Befehl, sich ausschließlich auf die Suche nach den entführten Franzosen zu konzentrieren, diese seien seine einzige Priorität. Bestünde „Disco Boy“ nur aus seinem verdächtig an eine allegorische Versuchsanordnung erinnernden Plot, dann wäre er zwar gut gemeint, aber auch ziemlich platt und naiv.

    Irgendwann weiß Aleksei (Franz Rogowski) selbst nicht mehr so genau, warum er eigentlich unbedingt nach Frankreich wollte.

    Zum Glück nutzt Giacomo Abbruzzese den Plot seines Spielfilmdebüts aber ohnehin eher als Sprungbrett, um sich auf eine formal wie dramaturgisch sehr viel ambitionierte Weise mit den Folgen (kollektiven) Traumata auseinanderzusetzen. Während der streng naturalistische Einstieg, bei dem Aleksei ein dreitägiges Fußballfan-Visum nutzt, um zunächst nach Polen einzureisen, noch an die im dokumentarischen Fach liegenden Wurzeln des Regisseurs erinnert, folgt mit dem plötzlichen Sprung ins Nigerdelta auch in der Form ein erster krasser Bruch: Nach einem bissigen Seitenhieb auf das Genre der einige Jahre lang extrem populären Vice-Reportagen, die immer möglichst krass sein wollten, dabei aber doch nur popkulturelle Guerilla-Klischees reproduziert haben, nimmt „Disco Boy“ eine immer stärker auch ins Mythische abdriftende Dimension an.

    Sowohl Jomo als auch seine Schwester Udoka, die von der vor allem für ihre Haar-Skulpturen berühmten Aktivistin Laëtitia Ky verkörpert wird, haben zwei verschiedenfarbige Augen, die einen sofort an schamanische Kräfte oder ähnliche Zauberei denken lassen. Den im Wasser stattfindenden Kampf zwischen Aleksei und Udoka sehen wir nur in Form von Infrarotbildern aus einem Nachtsichtgerät – und die noch brennenden oder bereits zerstörten Landschaftsstriche mit den gewaltigen, Ruß ausstoßenden Ölraffinerien im Hintergrund gemahnen gar an einige besonders spektakuläre Szenen aus „Apocalypse Now“.

    Jomos Schwester Udoka (Laëtitia Ky) hat wie ihr Bruder zwei verschiedenfarbige Augen – steckt hinter ihren schamanischen Ritualen womöglich doch mehr als abergläubischer Hokuspokus?

    Zurück in Frankreich droht Aleksei endgültig an seinen angesammelten Traumata zu zerbrechen (bei der Flucht war einst schon sein bester Kumpel ertrunken und was davor schon in Weißrussland alles geschehen ist, das kann man anhand einiger seiner zahlreichen Tattoos nur erahnen). Seinem einstigen Traum von der französischen Staatsangehörigkeit inzwischen so nahe, beginnt er zu resignieren, sich nur noch mittreiben zu lassen – und landet so schließlich in einer Disco, in der auch Udoka unter einem Künstlernamen als Tänzerin auftritt. Ihr Bruder hatte einst darüber sinniert, was aus ihm wohl als Weißer geworden wäre – und ist dann zur Antwort „ein Disco Boy“ gekommen.

    Ab hier lässt sich der Film dann endgültig fallen, gibt sich ganz dem treibenden Beat der Tracks hin, statt noch weiter einer naturalistischen Logik zu folgen. Ein mythisch aufgeladenes Musik-Märchen, bei dem die Körper der Kriegsopfer in einem Techno-Tempel zusammenfinden, ihre Seelen miteinander zu verschmelzen scheinen. Tanz als Befreiung von den eigenen Traumata und der totalen Kontrolle - durch die starren Regeln der Fremdenlegion wie allgemein dem Zustand der Welt. Man kann sich nicht sicher sein, ob das nun ein hoffnungsvoller oder ein hoffnungsloser Ausblick ist – und so erreicht „Disco Boy“ gerade im letzten Drittel doch noch eine spannende Ambivalenz, die man ihm da schon fast nicht mehr zugetraut hätte.

    Fazit: Tanzen gegen Tod und Traumata – in seiner Message bleibt „Disco Boy“ doch recht einfach, hat dafür aber dramaturgisch wie inszenatorisch erfreulich viel zu bieten. Zudem ist uns jeder Anlass, Franz Rogowski auf der Leinwand tanzen zu sehen, ohnehin herzlich willkommen.

    Wir haben „Disco Boy“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen, wo der Film in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.

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