Überzuckertes Manhattan-Märchen
Von Christoph PetersenIn Ensemblefilmen, in denen die verschiedenen Protagonisten nicht von Anfang an persönlich miteinander verbunden sind, sondern erst im Verlauf des Films zueinanderfinden, entsteht oft der Eindruck, hinter all diesen Zufälligkeiten stecke in Wirklichkeit ein umfassender Plan, den das Universum oder wer auch immer für uns alle bereithält. Das ist auch in dem New-York-Drama „The Kindness Of Strangers – Kleine Wunder unter Fremden“, dem Eröffnungsfilm der Berlinale 2019, nicht anders. Als Metapher für diese unsichtbaren Bänder zwischen den Figuren nutzt Autorin und Regisseurin Lone Scherfig unter anderem einen Schreibtischstuhl, der in einer der ersten Szenen des Films durch ein Fenster hinaus auf die Straße fliegt und später an unwahrscheinlichen Orten plötzlich wiederauftaucht. Dass ausgerechnet ein Büromöbel als Ausdruck eines universellen Zusammengehörigkeitsgefühls bemüht wird, ist längst nicht der einzige Moment, der es einem sehr schwer macht, dieses künstlich-kitschige Plädoyer für mehr Anteilnahme und Vergebung trotz seiner unterstützenswerten Moral überhaupt ernst zu nehmen.
Als Clara (Zoe Kazan) feststellt, dass ihr Ehemann, Polizist Richard (Esben Smed), nicht länger nur sie, sondern auch ihre Kinder quält und verprügelt, lädt sie ihre Söhne Anthony (Jack Fulton) und Jude (Finlay Wojtak-Hissong) eines frühen Morgens ins Auto und flieht mit ihnen nach New York. Zunächst hält sie sich mit dem Stehlen von Horsd'œuvres bei Empfängen oder herausgestellten Essensresten auf Hotelfluren über Wasser, bis sie schließlich die titelgebende Güte von Fremden erfährt: In einer Suppenküche trifft sie auf Alice (Andrea Riseborough), die nebenher auch noch als Krankenschwester und als Leiterin einer Selbsthilfegruppe arbeitet. Beim Häppchenstehlen im russischen Kaviarlokal von Timofey (Bill Nighy) begegnet sie zudem dem gerade aus dem Gefängnis entlassenden Restaurantleiter Marc (Tahar Rahim), der sie und ihre Söhne bei sich wohnen lässt. Und Marc ist es auch, der Clara an den etwas verpeilten Anwalt John Peter (Jay Baruchel) vermittelt. Aber der vor nichts zurückschreckende Richard ist seiner Familie bereits dicht auf den Fersen...
Clara (Zoe Kazan) versucht alles, um ihren schlagenden Ehemann endgültig aus ihrem Leben zu verbannen.
Wenn Jude eines Nachts fast erfriert, dann erinnert der verschneite Kirchenhinterhof mit seinem eiszapfenbehangenen Springbrunnen fast schon an eine Kulisse aus den Fantasy-Filmen der „Narnia“-Reihe. Der magische Realismus, den diese Szene andeutet, wäre einer von mehreren denkbaren Ansätzen, um diese Geschichte zu erzählen. Doch Scherfig wählt weder diesen noch irgendeine andere Möglichkeit. Vielmehr ist – abgesehen vom schmalzigen Streicher-Score – kein durchgängiges Konzept erkennbar. Doch das ist noch gar nichts im Vergleich zu den Dialogen, die derart klischeehaft, holprig und unnatürlich geraten sind, dass man sie auch nicht mehr damit entschuldigen kann, dass Lone Scherfig („Italienisch für Anfänger“, „An Education“) das Drehbuch nicht in ihrer dänischen Muttersprache geschrieben hat. Schließt man die Augen und vergisst für eine Sekunde, welche hochkarätigen Stars sich da gerade auf der Leinwand erfolglos abmühen, den steifen Skriptzeilen zumindest ein wenig Lebendigkeit abzuringen, kann man „The Kindness Of Strangers“ fast schon mit einer Seifenoper verwechseln – wenn auch einer mit einem ernsten Anliegen. Doch gut gemeint ist... ihr wisst selbst, wie der Spruch weitergeht.
Aber nicht nur die Dialoge sind mies, auch der Plot selbst entpuppt sich weitestgehend als bloße Aneinanderreihung von ausgelutschten Versatzstücken, bei denen sich Scherfig oft noch nicht mal die Mühe macht, die Handlungsbauklötzchen zumindest ein klein wenig zu variieren: Esben Smed („Sommer '92“) verkörpert den wohl klischeehaftesten Ehefrauenschläger, den wir je auf einer Kinoleinwand gesehen haben: Als Clara ihn fragt, wie er sie denn gefunden hätte, antwortet er nur: „Ich bin ein Cop. Ich habe Freunde“, was als komplette Figurenbeschreibung dient. Das Zusammenfassen in gerade mal zwei dünnen Sätzen ist natürlich schon ein extremer Fall – aber viel tiefer stößt der Film auch bei den anderen Figuren nicht vor. Nach den ersten 15 Minuten erfahren wir in den folgenden eineinhalb Stunden über keine der Figur mehr etwas Überraschendes. Es gibt keine subtilen Momente, sondern nur dickste Pinselstriche, die einem schon nach wenigen Szenen alles erzählt haben, was es über jeden Einzelnen zu wissen gibt.
Das Beste am Film: Bill Nighy als Restaurantbesitzer Timofey!
Wenn Zoe Kazan („The Big Sick“, „The Ballad Of Buster Scruggs“) traurig oder verzweifelt schaut, ist das normalerweise der herzzerreißendste Anblick, den man sich überhaupt nur vorstellen kann – aber hier lässt sie einen selbst als plötzlich auf der Straße gelandete Mutter zweier frierender Kinder buchstäblich kalt. Während der französische „Ein Prophet“-Star Tahar Rahim zwar mit erstaunlich akzentfreiem Englisch überrascht, beschränkt sich der Rest seiner Engel-in-der-Not-Rolle darauf, möglichst überzeugend einen Maßanzug zu tragen. Der einzige, bei dem man sich tatsächlich freut, wenn er auf der Leinwand auftaucht, ist Bill Nighy („Tatsächlich... Liebe“). Der zieht mit vorgetäuschtem russischem Akzent allerdings auch so konsequent eine charmant-trockene Comedy-Show ab, als würde er in seinem ganz eigenen Film spielen.
Fazit: Ein überzuckertes Manhattan-Märchen, das sich von Klischee zu Klischee hangelt und dessen Protagonisten sich trotz ihrer harschen Schicksale nicht für einen Moment wie tatsächliche Menschen aus Fleisch und Blut anfühlen.
Wir haben „The Kindness Of Strangers“ im Rahmen der Berlinale 2019 gesehen, wo er als Eröffnungsfilm gezeigt wurde.