Das echte Multiverse Of Madness
Von Björn BecherAls das MCU 2022 mit „Doctor Strange In The Multiverse Of Madness“ das erste Mal im Kino so richtig in den Parallelwelten-Zweig der Marvel-Welt vorstieß, kamen nicht nur wir zum Schluss: „Das hätte ruhig noch wahnsinniger sein dürfen!” Denn die im Titel versprochene „Madness“ blitzte nur vereinzelt auf – auch weil dann doch recht wenig vom Multiversum erkundet wurde. Fast genau ein Jahr später wird dieser Wahnsinn nun in einer anderen Marvel-Produktion nachgeliefert. „Spider-Man: Across The Spider-Verse“, die Fortsetzung des oscarprämierten Animationsfilms „Spider-Man: A New Universe“, hat zwar ebenfalls nur eine überschaubare Anzahl von Schauplätzen - aber trotzdem wird klar, dass jedes einzelne Paralleluniversum auf seine eigene Art abgefahren ist!
Das neue Regie-Trio aus Joaquim Dos Santos, Kemp Powers und Justin K. Thompson nutzt diese Steilvorlage für ein wahres Easter-Egg-Feuerwerk! Dabei gibt es längst nicht nur die Cameos, die eh schon viele erwartet haben, sondern noch viel, viel mehr, die niemand oder zumindest kaum jemand auf dem Plan hatte (und die wir hier natürlich nicht spoilern werden). Doch der größte Verdienst speziell der als Autoren und Produzenten das Projekt anführenden „The LEGO Movie“-Masterminds Phil Lord und Christopher Miller bleibt, dass sich „Spider-Man: Across The Spider-Verse“ trotzdem zu keiner Sekunde wie reiner Fan-Service anfühlt. Der bildet nämlich immer nur den Hintergrund für eine ebenso fesselnde wie mitreißende Geschichte, die wie schon beim herausragenden Vorgänger wieder in einer ebenso ausgefallenen wie abwechslungsreichen und letztlich schlicht brillanten Optik daherkommt.
Gwen Stacy offenbart Miles Morales, dass es eine Gemeinschaft der Spider-Menschen gibt.
Es ist einige Zeit vergangen, seit Gwen Stacy (Stimme im Original: Hailee Steinfeld) ein – ihr bis dahin fremdes – Universum gerettet hat. In ihrer eigenen Heimat bleibt sie hingegen weiter eine Einzelgängerin, die als Spider-Girl zwar immer wieder die Welt rettet, aber trotzdem selbst von den Behörden gejagt wird. Denn die ausgerechnet von ihrem eigenen Vater (Shea Whigham) angeführte Polizei hält sie für eine Mörderin. Als Gwen es plötzlich mit einer aus einem Leonardo-da-Vinci-Universum stammenden Version von Bösewicht Vulture (Jorma Taccone) zu tun bekommt, muss sie feststellen, dass die Lücken im Multiversum doch nicht endgültig geschlossen sind – und dass es eine von Miguel O'Hara alias Spider-Man 2099 (Oscar Isaac) angeführte Vereinigung von Spider-Menschen gibt, die für Ordnung im Multiversum sorgen.
Einige Zeit später kann die für O'Haras Organisation rekrutierte Gwen einen Auftrag nutzen, um ihren alten Freund Miles Morales (Shameik Moore) in seiner Welt zu besuchen. Der hat nicht nur weiter so seine Problemchen mit seinen fürsorglichen Eltern (Brian Tyree Henry / Luna Lauren Velez), sondern steckt auch gerade mitten in einer Auseinandersetzung mit dem plötzlich aufgetauchten Bösewicht The Spot (Jason Schwartzman) – und zwar ohne zu ahnen, dass es in genau diesem Kampf um nicht weniger als die Stabilität des gesamten Multiversums geht. Schon bald stellt sich dabei die Frage, ob bestimmte Opfer nicht gerechtfertigt sind, um das große Ganze zu beschützen...
Wie kann man das bombastische Vergnügen aus „Spider-Man: A New Universe“ noch übertreffen? „Spider-Man: Across The Spider-Verse“ folgt dabei zunächst einmal dem klassischen „Noch mehr“-Sequel-Konzept: Angeblich sind rund 280 Figuren - das Gros davon verschiedene Spider-Menschen-Variationen – im Film vertreten. In einer bereits in den Trailern enthüllten Szenen muss sich Miles Morales durch das komplette Hauptquartier der Spider-Menschen-Vereinigung schlagen – verfolgt von unzähligen anderen Spider-Men, -Women und was sich sonst noch per Bindestrich an Spider- anfügen lässt. Doch in „Spider-Man: Across The Spider-Verse“ ist dieser Noch-Größer-Ansatz nie bloßer Selbstzweck, sondern immer ein Mittel, um etwas Neues zu erzählen und vor allem zu zeigen.
Dies fängt schon mit der Eröffnungsszene an, in der wir nicht etwa zur Hauptfigur Miles Morales zurückkehren, sondern stattdessen erfahren, dass die so taffe und coole Gwen durchaus ihre ganz und gar nicht kleinen eigenen Probleme hat. Wenn sie ihre Lebensgeschichte zu den Beats eines Schlagzeug-Solos erzählt, ist das schon rein visuell bombastisch, aber vor allem auch emotional bewegend. Und ganz beiläufig erleben wir, wie die Verantwortlichen die Mittel eines Animationsfilms nutzen, um ihr Multiversum auch wirklich abwechslungsreich zu gestalten. Da muten in der Welt von Gwen die Hintergründe wie verschwimmende Wasserfarbenzeichnungen an – und es wird hier sehr viel mit Schärfen und Unschärfen gespielt.
Vulture als Erfindung von Leonardo da Vinci – ein Gegner, mit dem man noch ganz gut fertig wird.
In „Spider-Man: Across The Spider-Verse“ wird einem nie einfach erzählt, dass eine Welt anders ist – nur weil etwas das Geld als Zahlungsmittel überholt ist oder Pizza in Form von Bällchen gegessen wird. Stattdessen kann man es immer selbst sehen, ja sogar förmlich erleben. Jedes Paralleluniversum hat seinen eigenen visuellen Stil, der nicht nur zu spüren ist, wenn man etwa in die völlig überfüllte Metropole von Spider-Man India (Karan Soni) eintaucht, sondern auch dann, wenn die verschiedenen Spideys sich im gemeinsamen Hauptquartier begegnen.
Jeder Animationsstil regt sofort die Phantasie an und sorgt dafür, dass man sich umgehend eine ganz Welt hinter der jeweiligen Spider-Figur auszumalen beginnt. Dabei wird sich erneut durch Jahrzehnte an TV-, Kino- und Comic-Geschichte zitiert – mit sehr deutlich herausstechenden Momenten, aber auch mit vielen kleineren Verweisen.
Wie schon beim Vorgänger werden zahlreiche Gags und Anspielungen an einem unerkannt vorbeifliegen, wenn man nicht gerade die komplette Geschichte von Spider-Man und seinen Ablegern studiert hat – doch das macht nichts. In jeder Szene von „Spider-Man: Across The Spider-Verse“ passiert so viel, dass es eigentlich immer etwas gibt, das einen laut auflachen lässt oder in Erstaunen versetzt. Und ohnehin sind wir uns sicher, dass man selbst beim dritten Schauen noch unglaublich viel entdecken wird. Ja, das hat auch etwas von visueller Überforderung und nach deutlich über zwei Stunden Laufzeit fühlt man sich ein wenig platt – und doch bleibt da die Lust, direkt noch einmal im Film auf Entdeckungsreise zu gehen.
Erneut verstehen es die Verantwortlichen, ihre kunterbunte, abgefahrene und überbordende Welt nicht nur mit bombastischer Bildpracht, sondern auch mit ganz viel Herz zu füllen. Es gibt eine mitreißende Geschichte, nachvollziehbare Konflikte und Figuren, die auch in abstrakten Zeichnungen Wesen aus Fleisch und Blut sind. Dabei geht insbesondere der Kniff auf, dass neben Miles Morales nun auch Gwen Stacy stärker in den Mittelpunkt rückt. Rund um Miles ist ja schon viel aus dem ersten Teil bekannt – und der Konflikt mit seinen Eltern sowie seinem inzwischen toten Onkel wird nun geschickt durch Gwens Probleme mit ihrem Cop-Vater erweitert bzw. gespiegelt. Dabei gehört ihr übrigens auch die berührendste Szene des Films.
Sehr clever spielt der Film nicht nur in dieser Hinsicht mit den sich wiederholenden Elementen von Comic-Erzählungen und ihren Adaptionen. Bestandteil der Multiversums-Stabilität ist so die Einhaltung eines gewissen festen Kanons an Ereignissen, die in jeder Welt passieren MÜSSEN – egal ob Spidey nun ein Junge oder ein Schwein ist. Das ist nicht nur der treibende Plot-Motor, sondern auch ein Kniff, um weiteren der zahlreichen Figuren Hintergrund und Tiefe zu geben, ohne alles auserzählen zu müssen. So braucht es nicht zusätzliche Rückblicke, um die Tragik hinter der „Fuck The System“-Attitüde des kapitalismusverteufelnden, optisch an Sketch-Zeichnungen aus britischen Musik-Fanzines erinnernden Spider-Punk (Daniel Kaluuya) zu verstehen.
Bösewicht The Spot erweist sich hingegen als Widersacher, der nicht so einfach zu besiegen ist.
Bei allem Lob müssen wir aber zum Ende auch auf ein kleines Manko hinweisen: Nicht umsonst wurde aus dem Sequel während der Entwicklungszeit „Spider-Man: Across The Spider-Verse (Part One)“ und „Spider-Man: Across The Spider-Verse (Part Two)“. Die Verantwortlichen hatten irgendwann so viele Ideen und eine so komplexe Geschichte, dass dies alles nicht mehr in einen einzigen Film passt. Und so hört „Spider-Man: Across The Spider-Verse“ nun wirklich quasi mittendrin auf (wie gerade auch erst „Fast & Furious 10“). Der inzwischen schon wieder in „Spider-Man: Beyond The Spider-Verse“ umbenannte dritte Teil wird dann erst im Frühjahr 2024 das Geschehen fortsetzen und hoffentlich zu einem ähnlich herausragenden Abschluss bringen.
Fazit: „Spider-Man: Across The Spider-Verse“ ist neben „Everything Everywhere All At Once“ der bislang beste Multiversums-Film und ein Beweis, was man vor diesem Hintergrund gerade mit den Mitteln des Animationsfilms für ein visuell überbordendes und vor allem herrlich verrücktes Spektakel abfeiern kann. Wie schon beim Vorgänger ist die größte Stärke des Films allerdings erneut, dass zwischen famoser Action, visueller Bildpracht, absurden Gags und überraschenden Easter-Eggs auch immer genügend Platz für das Herz im Zentrum der Geschichte bleibt.