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    The Zone Of Interest
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    The Zone Of Interest

    Schöner Wohnen im Schatten von Auschwitz

    Von Christoph Petersen

    Jonathan Glazer („Sexy Beast“) hat sich schon immer mit jedem seiner Filme mehr oder weniger komplett neu erfunden. Das ist nun vor allem für all jene wichtig zu wissen, die sich wie so viele in seinen abgefahrenen Sci-Fi-Kultfilm „Under The Skin“ mit Scarlett Johansson verliebt haben. Denn wer nun mit ähnlichen Erwartungen in den übrigens komplett in deutscher Sprache gedrehten „The Zone Of Interest“ stolpert, der wird schon in den ersten Minuten sein blaues Wunder erleben: Nach der Titeleinblendung wird die Leinwand nämlich erst einmal wieder schwarz – dazu erklingt sphärische Musik, irgendwo im Hintergrund meint man leises Vogelgezwitscher zu vernehmen. Ja richtig, es wird noch mal sehr viel abstrakter und experimenteller – aber deshalb kein bisschen weniger durchschlagskräftig!

    Im Zentrum des Films steht der KZ-Kommandant Rudolf Höss (Christian Friedel), der mit seiner Frau Hedwig (seit „Toni Erdmann“ auch ein internationaler Arthouse-Superstar: Sandra Hüller) und den Kindern in einem kleinen Haus mit Garten lebt, das nur einen Steinwurf von der Betonmauer mit Stacheldraht entfernt liegt, die das im heutigen Polen gelegene Konzentrationslager Auschwitz umgibt (gedreht wurde an Originalschauplätzen). Wenn sich die Mitglieder der Familie durch das Haus bewegen, dann springen die gestochenen Digitalbilder wie von Geisterhand um – als würden sie aus von Bewegungsmeldern aktivierten Überwachungskameras stammen. Ganz abwegig ist es da sicherlich nicht, zumindest entfernt an irgendwelche Reality-Trash-TV-Formate zu denken – Keeping Up With The Hösses.

    LEONINE

    Familie Höss macht einen Ausflug zum See.

    Zunächst bekommt man immer nur Bruchstücke der (vermeintlich) banal-alltäglichen Gespräche mit: Es geht um Mode, die Kinder, das Essen und immer wieder ums Haus und den Garten, der nur ein braches Feld war, als die Familie hier eingezogen ist. Doch wenn man draußen am Pool liegt, dann wird die Linie des Horizonts vom Schornstein des Krematoriums unterbrochen, der unentwegt menschliche Asche in den Himmel pustet. Und auch die Unterhaltungen entwickeln immer wieder einen ins Mark fahrenden Schockfaktor, wenn man nur genauer hinhört: In der Modediskussion etwa geht es um das Problem, dass die Jüdinnen, deren Klamotten man gern tragen würde, immer so furchtbar dünn seien – und man wohl abnehmen müsste, um in ihren Kleidern schick auszusehen.

    Es gibt zwar später einige Bilder vom heutigen Ausschwitz und den Putzkräften, die dort u.a. die zum Museum umgestaltete Verbrennungsanlage säubern. Aber im historischen Teil bleibt „The Zone Of Interest“ konsequent diesseits der Lagermauern – und so spielt sich der Schrecken vor allem auf der Tonspur ab, denn dort vernimmt man immerzu entferntes Befehlsbrüllen, Hundegebell, Schmerzensgeschrei. Doch das ist wie mit dem Lärm, wenn man es gewohnt ist, direkt an einer stark befahrenen Straße zu leben: Das beständige Hintergrundrauschen nimmt man im Verlauf des Films immer weniger war, bis man sich ganz bewusst drauf konzentrieren muss, um die Schreckensgeräusche nicht vollständig auszublenden (wie es die Mitglieder der Höss-Familie offensichtlich schon längst tun).

    Die Endlösung nur eine Frage der Wohnlage?

    Es gehört zur Natur des Kinos, dass man in die Perspektive der von den Filmemacher*innen ausgewählten Protagonist*innen hinabtaucht – und selbst wenn sich wie in diesem Fall alles in einem dagegen sträubt, lässt es sich auf die Dauer eines Films kaum ganz vermeiden. Wenn Rudolf Höss schließlich nach Oranienburg versetzt wird, was für Helene den Rauswurf aus ihrem über Jahre hinweg perfektionierten privaten Paradies bedeuten könnte, muss man sich regelrecht zwingen, bloß nicht den Abstand zu verlieren – denn sonst könnte es passieren, dass man die Frage der Endlösung, die schon bald zur Ermordung Hunderttausender rumänischer Juden und Jüdinnen führen wird, aus der Perspektive einer Familie beurteilt, die entweder in ihrem „Schöner Wohnen im Schatten von Auschwitz“-Traumhaus wohnen bleiben darf oder nicht.

    Jonathan Glazer legt also nicht nur mit gewaltiger Schlagkraft einmal mehr die „Banalität des Bösen“ offen, indem er den vermeintlich normalen Familienalltag eines der größten Menschenvernichters der Geschichte ins Zentrum rückt, sondern provoziert zugleich auch noch die Fähigkeit des medial-dauerbespielten Publikums, ebenso den omnipräsenten Schrecken zumindest vorüberzugehend auszublenden. Immer wieder ertappt man sich dabei, wie man droht, in die Alltagsbanalitäten der Familie von der zu Besuch kommenden Schwiegermutter bis zur Einrichtung des Kinderzimmers hineingezogen zu werden – bis dann die auf der Wohnzimmercouch platznehmenden Vertreter eben doch keine Staubsauger verkaufen, sondern eine neue Hochleistungs-Gaskammer mit der Möglichkeit zum Dauerbetrieb im Angebot haben…

    Fazit: Ein Film wie eine einzige Aneinanderreihung von Schlägen in die Magengrube! Natürlich kann man sich die Frage stellen, ob die von Hannah Arendt titulierte „Banalität des Bösen“ nicht von einer einst profunden Erkenntnis inzwischen in die Kategorie eines ausgelutschten Allgemeinplatzes abgerutscht ist. Aber wenn man sie konzeptionell derart brillant wie konsequent ausbuchstabiert wie Jonathan Glazer in „The Zone Of Interest“, dann fährt sie einem trotzdem noch immer direkt und diesmal ganz besonders tief ins Mark.

    Wir haben „The Zone Of Interest“ beim Cannes Filmfestival 2023 gesehen, wo der Film in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.

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