Nachdem man immer häufiger davon hörte, dass junge Frauen aus Europa nach Syrien gehen, um sich dort dem IS anzuschließen, legte 2014 eine französische Journalistin zu Recherchezwecken ein falsches Facebook-Profil an, in dem sie sich als junge Konvertitin zum Islam ausgab. Ein hochrangiges IS-Mitglied biss an. Einen Monat lang unterhielt sich die Journalistin fast täglich mit ihm und willigte schließlich sogar zum Schein ein, seine Frau zu werden. Erst auf dem Weg nach Syrien, als sie nach einem Fehler aufzufliegen drohte, brach die Journalistin den Kontakt ab. Unter dem Pseudonym Anna Erelle (aus Sicherheitsgründen muss sie ihren echten Namen geheimhalten), veröffentlichte sie anschließend ihre Reportage, aus der dann schließlich auch ein Buch mit dem deutschen Titel „Undercover-Dschihadistin“ wurde. Nun bringt Timur Bekmambetov mit „Profile“ die Geschichte ins Kino. Der ansonsten auf Effekte spezialisierte Regisseur von „Wanted“ und „Ben Hur“ verlegt die Handlung nach England – und zwar auf einen einzelnen Computerbildschirm. Diese Reduktion ist ein grandioser Schachzug - und das nicht nur, weil das vermeintliche Gimmick die Spannung des ohnehin schon intensiven und zudem überraschend unterhaltsamen Thrillers noch zusätzlich steigert.
Nachdem die Story einer jungen englischen YouTuberin, die sich dem IS anschloss und nach Syrien ging, durch die Nachrichten ging, hat die freiberufliche TV-Journalistin Amy (Valene Kane) eine Idee: Sie erstellt sich ein neues Facebook-Profil, nennt sich Melody, macht sich zehn Jahre jünger und behauptet, zum Islam konvertiert zu sein. Ein paar Freundschaftsanfragen und geteilte Propaganda-Videos später schreibt der in Syrien für den IS kämpfende, ursprünglich ebenfalls aus London stammende Abu Bilel (Shazad Latif) sie über den Messenger an. Bald reichem ihm die schriftlichen Nachrichten nicht mehr aus, er will skypen. Amy lässt sich darauf ein, nimmt dabei alles auf. Schon bald hat sie eine Story zusammen, die ihre Redakteurin Vick (Christine Adams) auch nur zu gerne ausstrahlen würde. Doch Amy glaubt, noch mehr von Bilel bekommen zu können. Sie will wissen, wie der Transport der Mädchen nach Syrien geregelt wird. Immer mehr lässt sie sich auf den charismatischen Terroristen ein - und geht dabei möglicherweise zu weit...
Ein ganzer Film, der nur auf einem Computerbildschirm spielt? Das gab’s schon ein paar Mal, zum Beispiel bei dem von Bekmambetov produzierten „Unknown User“. Allerdings verkommt die Idee mit dem Desktop spätestens immer dann zum Gimmick, wenn eine Figur den Webcam-Laptop plötzlich in die Hand nimmt und damit losrennt (nur damit wir als Zuschauer weiter zusehen können). In „Profile“ ist es dagegen nur konsequent, dass sich Bekmambetov für diese Form der Darstellung entschieden hat. Schließlich spielte sich auch Anna Erelles gesamte Kommunikation mit dem realen Abu Bilel auf einem Computerbildschirm ab. Vor allem nutzt der kasachische Regisseur die gewählte Form der Darstellung aber, um die Spannung und Intensität hochzuhalten, die Erzählung zu verdichten sowie - und das ist das Wichtigste - die Gefühle und Gedanken seiner Hauptfigur auszudrücken.
Die verschiedenen Fenster spielen dabei eine wichtige Rolle. Über sie sehen wir parallel die Notizen, die sich Amy für die Gespräche gemacht hat, ihre Recherchen zu Aussagen ihres Gegenübers, aber auch die Warnungen von Kollegen und Freunden. Vor allem wird aber auch der Thrill gesteigert, wenn Bilel etwa plötzlich verlangt, dass sie über Skype ihren Bildschirm zur Ansicht freigibt. An einer anderen Stelle sehen wir, wie Amy etwas tippt, dann zögert, nach den richtigen Worten sucht und sich im letzten Moment doch noch darauf besinnt, dass die Formulierung „dein Krieg“ distanzierend wirken könnte. Die Gefahr, im Spiel mit zwei Identitäten durch einen einzigen Fehler aufzufliegen, ist immer präsent. Die ständigen Wechsel zwischen privatem und Fake-Facebook-Account, zwischen den beiden Skype-Konten oder parallele Chats mit Lebensgefährte Matt (Morgan Watkins) und dem neuen „Freund“ aus Syrien erhöhen die Spannung, zeigen aber auch die zunehmende Zerrissenheit der Protagonistin.
Bekmambetov übernimmt viele Elemente aus Erelles Buch und stellt auch mitunter fast schon absurd anmutende Momente aus den Gesprächen nach, wie etwa die Aussage des IS-Kämpfers, dass der Selbstmordgürtel gerade der neueste Chic unter den aus Europa gekommenen Frauen ist. Als dann auch noch Aufforderungen zum Tragen von Reizwäsche unter dem Hidschab folgen, entgegnet die Journalistin, dass das doch religiös anstößig sei. Aber nein, sie wäre dann ja seine Frau, schwadroniert der IS-Führer, deshalb würde er ja auch Konvertiten bevorzugen, die seien sexuell viel offener und würden mehr machen, um ihren Mann zu beglücken.
Während all diese Stellen oder auch die ausgiebige Nutzung von Katzen-Gifs in der Unterhaltung direkt aus der Buchvorlage stammen, entschließt sich Bekmambetov im zweiten Teil doch zu einer entscheidenden und notwendigen Änderung. Anna Erelle trennt in ihrem Buch sauber zwischen ihren Gedanken und denen ihres erfundenen Alter Egos Melody. Während sie in der Ich-Form von sich erzählt, berichtet sie in der dritten Person von der devoten Melody, die sich plötzlich gebraucht und geliebt fühlt. In Wirklichkeit verabscheute die Journalistin ihr Gegenüber immer mehr, wie sie in Interviews rund um die Buchveröffentlichung erklärte. Bekmambetov legt die beiden Figuren im Film allerdings zusammen. Bei Amy wird so immer mehr infrage gestellt, wie sie eigentlich inzwischen zu ihrem Gesprächspartner steht. Sie droht dem Charisma des von Schauspieler Shazad Latif („Star Trek: Discovery“) bärenstark verkörperten Bilel zu erliegen. Während sie auch seine Seite zu verstehen beginnt, öffnet er sich immer mehr und mehr.
Ein solcher Blick in das Innenleben einer Figur ist bei einem Film immer schwieriger als bei einem Roman, in dem der Autor schreiben kann, was jemand denkt und fühlt. Doch Bekmambetov gelingt genau das in seinem Thriller – und zwar fast ohne Worte. Dass Amy sich bestimmte Passagen der Unterhaltung noch einmal anschaut, das Bild von Bilels Mutter aufruft, recherchiert, wo er gerade ist, sich wundert, warum er sich nicht meldet, verdeutlicht auch ohne es aussprechen zu müssen, dass sie sich plötzlich Sorgen um ihn macht. Da hätte es die kurzen Skype- oder Chat-Nachrichten mit Kollegen und Freunden gar nicht gebraucht, die nur dazu da sind, um diesen Punkt noch einmal zu unterstreichen.
Mit der Änderung gegenüber der Buchvorlage zieht der kasachische Regisseur vor allem auch die Spannungsschraube noch einmal gehörig an. Gen Ende überschlagen sich die Ereignisse regelrecht. Weil Bekmambetov dafür gesorgt hat, dass Amy nicht klar positioniert ist, scheint alles möglich, was sich vor allem im Finale voll auszahlt. Hier hat auch Hauptdarstellerin Valene Kane („Rogue One: A Star Wars Story“), die zwischen der toughen Journalistin Amy und deren Rolle als devote Melody erst ständig wechseln und sie schließlich beide zusammenführen muss, ihre stärksten Momente. Dabei schlägt der Regisseur am Ende die Brücke zurück zu den realen Ereignissen um Anna Erelle und führt uns deren Schicksal vor Augen. Die Reporterin steht heute unter Polizeischutz. Es wurde eine Fatwa erteilt, nach der es die Pflicht jedes Muslims sei, sie zu töten.
Fazit: „Profile“ ist ein ebenso faszinierender wie ungemein spannender Thriller – auch weil er sich komplett auf einem einzelnen Computerbildschirm abspielt.
Wir haben „Profile“ bei der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film als Panorama Special gezeigt wird.