Die Aufsprengung des Marvel Cinematic Universe
Von Christoph PetersenDer Doppelschlag von „Avengers 3: Infinity War“ und „Avengers 4: Endgame“ war eine Kraftdemonstration, wie es sie noch nie zuvor im Kino gegeben hat – 20 Blockbuster hindurch wurde die nötige Vorarbeit geleistet, nur um dann all den angesammelten Pathos und all das liebgewonnene Personal in einer finalen Schlacht gemeinsam auf die Leinwand zu schmeißen. Ein immenser Aufwand, den man in diesen epischen Momenten mit 25 und mehr ikonischen Figuren auch jederzeit spürt. In „Spider-Man 3: No Way Home“ gehen Regisseur Jon Watts und Marvel-Mastermind Kevin Feige nun den nächsten logischen Schritt …
… und sprengen die Grenzen des Marvel Cinematic Universe (MCU) endgültig auf. Nur fühlt sich das diesmal nicht an wie eine Kraftanstrengung – ganz im Gegenteil: Es ist gerade diese unverschämte Lässigkeit in Anbetracht einer das Genre revolutionierenden Meta-Erzählung, die die 148 Minuten von „No Way Home“ zu den wohl unterhaltsamsten im gesamten MCU macht. Die Gags sitzen mit einer unglaublichen Sicherheit – und der franchisesprengende Fanservice liefert nicht nur Überraschungen am laufenden Band, sondern trifft auch emotional voll ins Schwarze. Nicht zu vergessen, dass der erneut fantastische Tom Holland seiner Figur noch einmal eine ganz neue Tiefe mit erstaunlich intensiven, ambivalent-düsteren Zwischentönen verleiht.
Was die Chemie zwischen den beiden angeht, spielen Tom Holland und Zendaya inzwischen in einer Liga mit Tobey Maguire und Kirsten Dunst.
Nach der Enthüllung seiner wahren Identität am Ende von „Spider-Man 2: Far From Home“ muss Peter Parker (Tom Holland) nicht nur mit dem unerwünschten Publicity-Trubel klarkommen, sondern auch ernsthafte juristische Konsequenzen fürchten – schließlich gibt es immer noch viele wie den Verschwörungs-Spinner J. Jonah Jameson (J.K. Simmons), die Spider-Man nicht für einen Helden, sondern für einen Terroristen halten. Endgültig keinen Spaß mehr versteht Peter allerdings, als seine große Liebe MJ (Zendaya) und sein bester Kumpel Ned (Jacob Batalon) wegen ihrer Freundschaft zu ihm nicht an der Universität aufgenommen werden sollen.
Peter bittet deshalb seinen Avengers-Buddy Doctor Strange (Benedict Cumberbatch), die Geschehnisse der letzten Tage wieder rückgängig zu machen. Aber das ist schon deshalb nicht möglich, weil Strange den Infinity-Zeitstein nicht mehr besitzt. Stattdessen soll ein Zauberspruch, der die ganze Welt vergessen lässt, wer Spider-Man wirklich ist, Abhilfe schaffen. Nur führen Peters ständigen Anpassungswünsche dazu, dass beim Zaubern etwas schiefläuft – und so sieht sich Peter plötzlich mit interdimensionalen Spider-Man-Bösewichten wie Doc Ock (Alfred Molina), dem Green Goblin (Willem Dafoe) oder Electro (Jamie Foxx) konfrontiert…
Wenn Peter und MJ nach der Enthüllung von Spider-Mans Identität vom Times Square in die Wohnung von Tante May (Marisa Tomei) flüchten, ist das kein dramatischer Moment der Einkehr und Reflektion – sondern der pure Screwball-Stress: Nicht nur schwirren draußen die Helikopter herum, während im TV die Breaking-News-Sendungen laufen – Peter wird beim Umziehen auch noch halbnackt mit MJ vom zufällig reinplatzenden Happy Hogan (Jon Favreau) „erwischt“, wobei der Ex-Bodyguard von Tony Stark eh gerade todtraurig ist, weil Tante May mit ihm Schluss gemacht hat. Das MCU trifft „American Pie“ auf Speed – und die Schauspieler*innen beweisen nicht nur ein extrem sicheres Timing, sondern haben auch ansteckend viel Spaß dabei.
Das gilt übrigens nicht nur für das etablierte Personal, das ja schon in „Spider-Man: Homecoming“ und „Spider-Man: Far From Home“ so grandios miteinander harmoniert hat. Auch die Spider-Man-erfahrenen MCU-Neulinge wie Willem Dafoe, Alfred Molina oder Jamie Foxx (mehr wird hier nicht verraten!) passen sich mitsamt ihren ikonischen Rollen ganz wunderbar an den emotional-ehrlichen, aber trockenhumorigen Ton der neuen „Spider-Man“-Trilogie an: Seiner Tante zuliebe will Peter die Bösewichte nämlich nicht einfach in ihre Dimension zurückschicken, sondern sie zuvor noch „heilen“ – und so gibt es einige hochtourige Ensemble-Szenen in einer Art interdimensionaler Therapie-WG, wo jeder der „Bewohner“ mal mit satten Sprüchen punkten darf.
Nur einer von mehreren Bösewicht-Rückkehrern aus Nicht-MCU-Spider-Man-Filmen: Alfred Molina als Doc Ock.
Natürlich ist das alles nicht so einfach, wie sich Peter das zunächst vielleicht vorstellt – und so gibt es dann doch noch eine Reihe zerstörerischer Action-Sequenzen. Besonders gelungen: Ein erneuter Abstecher in die Spiegeldimension, der diesmal sogar noch um einiges eindrucksvoller geraten ist als die entsprechenden Szenen in „Doctor Strange“ – sowie das große Finale auf der Freiheitsstatue, in dem neben krachender Action auch erstaunlich viele wirklich zu Herzen gehende Momente untergebracht sind. Hier werden nicht nur lose Fäden des MCU weitergeführt – auch andere offene Enden der Spider-Man-Historie werden endlich zu einem verdienten Abschluss gebracht…
Apropos Herzen: „Spider-Man: Far From Home“ ist zwar in erster Linie ein unverschämt unterhaltsamer Film – aber wenn Jon Watts dann doch mal emotionale, tragische oder düstere Töne anschlägt, dann sitzen auch die. Speziell Tom Holland („Uncharted“), der in „No Way Home“ nun auch seinen eigenen ikonischen „Mit großer Verantwortung…“-Moment erlebt, wagt sich zwischendrin an einige unerwartet düstere Orte – und verkörpert Spider-Man dabei mit einer wutrasenden Intensität (inklusive blutverschmiertem Gesicht), wie wir es von der freundlichen Spinne aus der Nachbarschaft nun wahrlich nicht gewohnt sind. In „No Way Home“ macht Peter jedenfalls eine stärkere Entwicklung durch als in all seinen bisherigen MCU-Auftritten zusammen.
Am Ende lässt der Film seinen Titelhelden in einer Situation zurück, die fast noch spannender als der Cliffhanger aus „Spider-Man: Far From Home“ ist und bei der man unbedingt wissen will, wie es denn nun mit Spider-Man im MCU noch weitergehen wird. Zumal die emotionalen Einsätze nicht kleiner werden: Die Chemie zwischen Tom Holland und Zendaya („Euphoria“) ist spätestens in diesem Film so phänomenal, dass die beiden inzwischen sogar in einer Liga mit Tobey Maguire und Kirsten Dunst spielen – selten hat man einem Paar in einem Superhelden-Spektakel so sehr die Daumen gedrückt. Aber natürlich ist all das, was hier in der Kritik steht, ohnehin nur der Anfang…
… denn der größte Teil von „No Way Home“ sind harte Spoiler. Es gab selten Filme, wo es einen so sehr in den Fingern juckte, auch über all das zu schreiben, was da im zweiten und dritten Akt noch kommt – denn da werden selbst die kühnsten Fanträume übertroffen. Aber auch wenn die Alles-im-Internet-Leser*innen unter euch wahrscheinlich schon eine gewisse Ahnung haben, was das vielleicht sein könnte, sind die zahlreichen Überraschungen in „No Way Home“ definitiv eine der zentralen Stärken, die wir hier auf keinen Fall kaputtmachen wollen. Und selbst diejenigen, die in den Monaten vor Kinostart jeden Gerüchteschnipsel aufgesogen haben, brauchen keine allzu große Angst haben: Selbst mich, der wirklich mit allem und jedem gerechnet hat, hat „Spider-Man 3“ an mehr als nur einer Stelle trotzdem drangekriegt – unter anderem schon in den ersten Minuten, wenn sich der von den Behörden verfolgte Peter Parker einen ganz besonderen Rechtsbeistand zur Hilfe holt…
Fazit: „Avengers 4: Endgame“ hat die ersten Schritte gemacht, aber erst „Spider-Man 3: No Way Home“ zeigt, was im Superhelden-Genre erzählerisch tatsächlich alles möglich ist. Ein die Franchise-Grenzen mit angenehmer Lässigkeit überwindendes Meta-Vergnügen – saumäßig unterhaltsam, verspielt clever, gefühlvoll tragisch, immer überraschend.