Wo bleibt der Horror?
Von Oliver KubeMit „Raum“-Regisseur Lenny Abrahamson sowie den Hauptdarstellern Domhnall Gleeson („Ex Machina“) und Ruth Wilson (Golden Globe für „The Affair“) hat „The Little Stranger“ gleich eine ganze Reihe großer Namen zu bieten. Noch dazu basiert der Film auf einem der populärsten Romane von Bestsellerautorin Sarah Waters. Trotzdem taten sich die Verleiher bei der Vermarktung bisher sehr schwer. In Großbritannien und den USA wurde „The Little Stranger“ etwa als Gothic-Horror-Thriller beworben. Dabei handelt es sich vielmehr um ein auf Atmosphäre setzendes Charakter-Drama mit einem starken Fokus auf den Umbruch in der britischen Klassengesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Nur am Rande und ganz zum Schluss wird dieses mit Mystery-, Suspense- und Romantik-Elementen angereichert. Eine Mischung, die dem gemeinen Grusel- und Horror-Fan nur wenig zu bieten hat. Doch das ist nicht der einzige Grund, weshalb der Film sein Publikum nicht fand und an den Kinokassen floppte.
Mittelengland, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg: Der aus einfachen Verhältnissen stammende Landarzt Dr. Faraday (Domhnall Gleeson) glaubt, sich in der provinziellen Gesellschaft etabliert zu haben. Allerdings lässt ihn der Landadel immer wieder merken, dass dem längst nicht so ist. Als er zu einem Notfall auf den Herrensitz Hundreds Hall gerufen wird, lernt er die in finanzielle Probleme geratenen Besitzer näher kennen. Neben dem entstellten Kriegsinvaliden Roderick (Will Poulter) und seiner desillusionierten Schwester Caroline (Ruth Wilson) leben dort nur noch deren Mutter (Charlotte Rampling) sowie das einzig verbliebene Dienstmädchen Betty (Liv Hill). Das sichtlich heruntergekommene Gemäuer weckt eine Kindheitserinnerung in Faraday: Einst durfte er im Rahmen eines Dorffestes das damals noch in voller Pracht stehende Anwesen besuchen. Dabei konnte er nicht widerstehen, ein kleines Souvenir zu stibitzen. Bald kommt es wiederholt zu mysteriösen Vorkommnissen auf Hundreds Hall, die jeweils die Anwesenheit des Arztes erfordern...
Lenny Abrahamsons Film beginnt sehr ruhig und langsam. Lange Zeit könnte man glauben, in einem düstern Spin-Off von „Downton Abbey“ gelandet zu sein. Stimmung und Ambiente erinnern zudem an die Romane der Brontë-Schwestern Emily („Wuthering Heights“) und Charlotte („Jane Eyre“). Echte Haunted-House- oder Geistergeschichten-Atmosphäre kommt dabei aber leider nicht auf. Der irische Regisseur konzentriert sich mehr auf die Figuren, ihr Auftreten und ihr Verhalten als auf die skurrilen Ereignisse wie die Verstümmelung der Tochter eines Nachbarn, geheimnisvolle Kratzereien auf Fensterbänken oder das dauernde Klingeln der Dienstbotenglocken, die anschließend aber niemand betätigt haben will. All das passiert beinahe beiläufig, ist (absichtlich?) unspektakulär und unterbelichtet sowie überhaupt nicht gruselig ins Bild gesetzt.
Viel mehr Zeit und Sorgfalt wird stattdessen darauf verwendet herauszuarbeiten, dass der eigentlich aus der Unterschicht stammende Doktor sich deutlich besser pflegt und herrschaftlicher gibt als die Blaublüter, denen er gesellschaftlich aber dennoch allein aufgrund seiner Herkunft weiterhin unterlegen bleibt. Mit strähnigen Haaren, schlabbrigen, zerfetzten Männerklamotten und mit Gummistiefeln breitbeinig durch den verwilderten Garten stapfend, ist Caroline alles andere als lady-like. Und im Gegensatz zum überlegt und effizient handelnden Faraday ist der unter post-traumatischem Stress leidende, einstige Air-Force-Pilot Roderick mit der Führung der Familiengeschäfte offensichtlich komplett überfordert.
Auch wenn die anderen zaghaft andeuten, in dem Haus würde etwas nicht stimmen, finden die sich ungelenk und aus unterschiedlichen Motiven einander annähernden Caroline und Faraday jeweils schnell mehr oder weniger plausible Gründe für die Vorkommnisse. Eine übersinnliche Erklärung kommt ihnen hingegen gar nicht in den Sinn. So werden der völlig harmlose Labrador, Rodericks Geisteszustand oder Mäuse, die in das hausinterne Kommunikationssystem eingedrungen sind, verantwortlich gemacht. Erst nach immerhin fast 70 Minuten Spielzeit nimmt der bis dahin gedämpft dahinschleichende Film endlich etwas Fahrt auf, wenn die von Charlotte Rampling („Red Sparrow“) verkörperte Lady Ayres von unsichtbarer Hand in das leerstehende Kinderzimmer ihrer früh verstorbenen ersten Tochter gesperrt wird.
Das gerade angezogene Tempo wird von Abrahamson und Drehbuchautorin Lucinda Coxon („The Danish Girl“) daraufhin aber leider gleich wieder gedrosselt. Denn was wirklich in dem Haus vorgeht und wer oder was für diese unheimlichen Momente verantwortlich ist, wird lediglich in kleinen Dialogszenen und mittels kurzer Flashbacks angedeutet. Wer die Literaturvorlage nicht kennt, kann diese offenbar bewusst ambivalent gehaltenen Einschübe nur mit viel gutem Willen bruchstückhaft kombinieren. Auch die im Buch weit eindringlicher beschriebene Besessenheit Faradays von dem riesigen Haus sowie allem, was es für ihn darstellt, kommt hier nur ungenügend zu Tage. So wirkt die in ihr begründete, finale Auflösung der Geschichte wie aus dem Hut gezaubert. Angesichts sehenswerter Attribute wie den detailliert ausgestatteten Kulissen oder den, im Vergleich zum sehr zurückgenommen agierenden Gleeson, intensiv als auch vielschichtig aufspielenden Ruth Wilson und Charlotte Rampling sorgt dies letztlich für Frustration beim Zuschauer.
Fazit: Eine Geistergeschichte, die kaum eine ist. Lenny Abrahamson konzentriert sich ganz auf seine Beobachtungen zum britischen Ständesystem Ende der 1940er Jahre. Dabei hätten diese allenfalls das Zeug zur starken Dreingabe zu einem spannenden Gothic-Grusler gehabt, der in „The Little Stranger“ aber leider von Anfang an nie so richtig in Gang kommt.