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    Kuso
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Kuso
    Von Manuel Berger

    Aus den Boxen schallt das Schnattern von Delfinen, während ein pummeliger nackter Mann auf der Leinwand Sex mit einer undefinierbaren Masse hat. In dieser Szene haben zwei Zuschauer bei der Berliner Fantasy-Filmfest-Vorführung endgültig genug – sie packen kopfschüttelnd ihre Sachen und verlassen den Saal. Es sollten nicht die einzigen bleiben. Schon bei der Weltpremiere auf dem prestigeträchtigen Sundance Filmfestival sorgte eine angebliche Massenflucht für Schlagzeilen. Der Filmkritiker Chris Plate harrte hingegen bis zum Ende aus und nannte „Kuso“ anschließend den widerlichsten Film, den er jemals gesehen hat. Doch man täte Steven Ellison alias Flying Lotus Unrecht, wenn man sein Regiedebüt allein auf seine brechreizinduzierenden Ekelqualitäten reduzieren würde: Der DJ strapaziert die Nerven und die Das-Essen-drin-behalten-Fähigkeiten seines Publikums ganz gewaltig, keine Frage. Aber unter all den schwimmenden Brathähnchen, aufgespießten Penissen, als Vagina zweckentfremdeten sprechenden (!) Eiterbeulen sowie einer beträchtlichen Menge Kot und Kotze entwirft Flying Lotus ein kompromissloses ästhetisches Horror-Unikum, das auf faszinierend abstoßende Art zeigt, warum er zu Recht als radikales künstlerisches Genie gilt.

    Nach einem schrecklichen Erdbeben in Los Angeles entwickeln die Überlebenden körperliche Mutationen oder verfallen gleich dem Wahnsinn. Der lethargische Kenneth (Oumi Zumi) lebt mit seiner Freundin (Iesha Coston), deren auffälliges Halstuch darauf hindeutet, dass sie ihm etwas verheimlicht, in seinem dreckigen Zimmer Würge-Fantasien aus… Angel (Mali Matsuda) kriecht auf der Suche nach ihrem Baby durch verschüttete Betontunnel – sie glaubt, das Neugeborene verspeisen zu müssen, um selbst weiterleben zu können… Ausgelöst durch den widerlichen Fraß, den ihm seine Mutter jeden Morgen vorsetzt, entleert Charlie (Shane Carpenter) mitten im Unterricht seinen Darm. Von den anderen Schülern ausgelacht, flüchtet er in den Wald, wo er ein in einer pulsierenden, an einen Anus erinnernden Öffnung steckendes Lebewesen fortan mit Fäkalien füttert… B (Bethany Schmitt) teilt sich eine kotverschmierte Wohnung mit zwei kiffenden Aliens (gesprochen von Hannibal Buress und Donnell Rawlings), hat aber einen Termin für die Abtreibung ihres ungewollten Babys. In der Arztpraxis von Dr. Clinton (George Clinton) begegnet sie einem Mann (Zack Fox), der mit wirklich allen Mitteln versucht, seine panische Angst vor Brüsten loszuwerden…

    Schon nach der einleitenden Musical-Sequenz des Rappers Busdriver ist klar: Mit einer konventionellen Erzählung hat „Kuso“ nichts am Hut. Flying Lotus inszeniert seine Fäkal-Groteske als surreale Stilcollage und lässt sich dabei nicht durch nachvollziehbare Handlungsstränge aufhalten. Wenn Angel eine 8-Bit-Adaption von Charles‘ Waldspaziergang im Fernsehen verfolgt, ist das abseits des Erdbebens und der Eiterbeulen so ziemlich die einzige Verbindungslinie, die sich zwischen den vier Episoden ziehen lässt. Auch innerhalb der einzelnen „Geschichten“ gibt es immer wieder plötzliche Sprünge, etwa wenn die in völliger Isolation hausende Angel ohne Vorwarnung durch ein Plasma-Loch stürzt und sich daraufhin mit einer anderen Frau an den Beinen zusammengewachsen in einer Live-TV-Übertragung wiederfindet.

    In die Auswahl für den „widerlichsten Film, der jemals gedreht wurde“ schafft es „Kuso“, weil Flying Lotus ausschließlich Konzepte und Bilder weit jenseits aller akzeptierten Geschmacksgrenzen realisiert. Er zelebriert einen der wohl ekelhaftesten Filmküsse überhaupt, ein einziges spermagetränktes Saugen und Sabbern. Wo immer es geht, kommt Scheiße ins Spiel („Kuso“ ist übrigens das japanische Wort dafür). Und ein plötzlich seinen Kopf aus dem Klo streckender Stalker (Tim Heidecker) lässt sichtlich erregt vor seinem Opfer eine Vergewaltigung Revue passieren, als wäre das ein ganz normales Smalltalk-Thema. Nicht einmal ungeborene Babys im Mutterleib werden bei diesen Overkill des Abstoßenden verschont. So schafft Flying Lotus eine wahrhaft einzigartige Ästhetik: Nicht einmal Spuren von Schönheit werden hier geduldet, jeder Mensch ist bedeckt von Pusteln und Warzen, einige haben verschobene Gesichtszüge, andere tragen Kakerlaken in ihren Hintern spazieren. Es ist eine Feier des Hässlichen, an dem man sich gerade wegen seiner gnadenlosen Konsequenz kaum sattsehen kann.

    Und wenn ein herkömmliches Filmset nicht mehr ausreicht, um die fäkalienverschmierten Kopfgeburten der Filmemacher umzusetzen, entfacht der Regisseur einen psychedelischen Animationsstrudel, der ein wenig wie eine abgefuckte Hommage an die Nonsens-Zwischensequenzen aus Monty Pythons Sketch-Show „Flying Circus“ erinnert. Da gibt es dann Tentakelbrüste oder einen in einer Collage aus Papierschnipseln zusammengesetzten Mutanten, der über Muttermilch philosophiert. Fans des Musikers Flying Lotus kommen dabei übrigens auch nicht zu kurz: Natürlich unterlegt der DJ seinen visuellen Wahn mit einer ebenso abgedrehten wie genialen Soundkulisse. Eine harte Atemkontrolle-Sexszene konterkariert er mit euphorischer Klassik, nur um kurz darauf ein Schlaflied anstimmen zu lassen. Insgesamt dominiert verstörende Electronica, gewürzt mit vereinzelten Ausflügen ins Jazzige.

    Die gesellschaftskritische Dimension liegt dabei nie weit unter der krassen Oberfläche verborgen. Im Grunde finden sich fast alle großen Probleme des 21. Jahrhunderts in dieser cineastischen Kakophonie wieder: Dritte-Welt-Armut, Fake News, mediale Shitshow… und egal in welchen dystopischen Gefilden sich die Protagonisten auch aufhalten, immer steht irgendwo ein empfangsgestörter Fernseher herum. In unregelmäßigen Abständen ploppen Nachrichtensendungen und Reklame auf, die beiden Aliens gucken unermüdlich gewaltverherrlichende Videos. Mit dem dazugehörigen Dialog wird „Kuso“ gleich noch selbst zusammengefasst: „Warum guckt ihr euch das an?“ – „Das ist Kunst!“ – „Das ist Müll…“ Plumpe Provokation geht anders, wir plädieren dann doch ganz stark für Kunst.

    Fazit: Der apokalyptische, abstoßende Bilderrausch „Kuso“ ist sicherlich nicht für jeden. Aber wer eine gewisse Experimentierfreude abseits ausgetretener narrativer Pfade, eine gute Portion Humor und einen starken Magen mitbringt, der wird erkennen, dass Flying Lotus auch abseits seiner Musik eine ebenso eigenwillige wie radikale Vision verfolgt.

    Wir haben „Kuso“ auf dem Fantasy Filmfest 2017 gesehen, wo er im offiziellen Programm gezeigt wird.

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