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    The Wild Pear Tree
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    The Wild Pear Tree
    Von Lucas Barwenczik

    The Wild Pear Tree“ ist der Titel des neuen Dramas von Nuri Bilge Ceylan („Uzak“, „Drei Affen“). Und es ist zugleich der Titel des Romans, den die Hauptfigur des Films schreibt. Nicht zum ersten Mal finden beim türkischen Regisseur Kino und Literatur zusammen. Eines seiner größten Vorbilder ist der russische Autor Anton Tschechow. Schon in seinem in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Drama „Winterschlaf“ wurde der Protagonist zum Literaten. Die Drehbücher, die Ceylan regelmäßig zusammen mit seiner Ehefrau Ebru verfasst, sind hinter den Bildern stets zu erkennen. Worte bestimmen bei ihm die Welt. Im Fall von „The Wild Pear Tree“ ist das Stärke und Schwäche zugleich. Wie gut kann ein Film sein, der eher geschrieben als gedreht wurde?

    Nach dem Studium in Çanakkale kehrt Sinan (Doğu Demirkol) in seine kleine Heimatstadt zurück. Hier steht er vor der Frage, welchen Pfad er einschlagen soll: Er könnte Grundschullehrer werden wie sein spielsüchtiger Vater Idris (Murat Cemcir), doch gelernt hat er für die letzte Prüfung nicht. Denn eigentlich träumt er von einer Karriere als gefeierter Literat. Möglicherweise wird er für den Militärdienst eingezogen, viele seiner Freunde arbeiten bei der Polizei. Die Zukunft erscheint unsicher…

    „The Wild Pear Tree“ ist ein Film der Begegnungen und Wiederbegegnungen. Über drei Stunden Laufzeit werden vor allem mit Dialogen gefüllt. Sinan stapft über Feldwege und rissigen Asphalt, bis er einen neuen Gesprächspartner trifft. Alte Freunde, eine verflossene Liebschaft, Familienmitglieder, Geschäftsmänner, Geistliche und Politiker. Sie fügen sich zu einem Gesellschaftspanorama der ländlichen Türkei und haben etwas Exemplarisches. Die meisten von ihnen stehen stellvertretend für die verschiedenen Institutionen und Weltanschauungen.

    Über manchen Bildern liegt Nebel. Aber alle sind von einer tiefen Melancholie durchzogen. Die Stadt, in die Sinan nach dem Studium zurückkehrt, ist nicht mehr die seiner Jugend. In seinem Stammcafé tummelt sich eine neue Generation von Teenagern, seine Freunde sind längst weg. Ceylan zeichnet das Bild einer Region im Niedergang. Arbeitslosigkeit ist weit verbreitet, vor allem unter jungen Menschen. Für eine vernünftige Anstellung muss man in den Osten des Lands reisen. Das Gemeinwesen ist zerrüttet, die Familien geben keinen Halt. Vom Glaube bleiben einige geschwätzige Imame, die ihren Gemeindemitgliedern Geld abluchsen.

    Sinan besucht den Bürgermeister, um finanzielle Unterstützung für die Veröffentlichung seines Romans zu erhalten. Der macht zuerst großes Gerede um die Unterstützung von Künstlern und zeigt auf seine ausgehängte Tür. Sie steht – ganz symbolisch – immer offen. Doch als er erfährt, dass Sinan keinen Reiseführer für die Stadt und auch keine Märtyrer-Geschichte verfasst, ist es mit der Offenheit schlagartig vorbei. Die offensichtlichen und verborgenen Hürden für Kreative in der Türkei wird Regisseur Ceylan selbst aus eigener Erfahrung nur allzu gut kennen.

    Der Film begnügt sich nicht damit, diesen Zustand darzustellen. Der urteilende Blick wird vor allem durch die Wahl des Protagonisten deutlich. Sinan ist klar eine satirische Figur. Seine Arroganz wird offen ausgestellt. Der Graben zwischen Selbstbewusstsein und Talent klafft bei ihm außergewöhnlich weit auseinander. Wenn „The Wild Pear Tree“ humorvoll ist, dann vor allem durch ihn. Snobismus ist sicher ein dankbares Ziel für Spott, aber auch ein etwas einfaches. Die Identifikation mit dem schon in den ersten Minuten vollständig entlarvten Sinan fällt deshalb auf Dauer alles andere als leicht.

    Dieser Ansatz hat ganz zweifellos eine Daseinsberechtigung. Gerade einem Akademiker wie Sinan (oder einem westlichen Kinopublikum) fällt es allzu leicht, auf anatolische Dorfbewohner hinabzublicken. Doch ihre Lebens- und Gedankenwelten sind komplexer, als sie auf den ersten Blick wirken. Ceylan zielt, wenn auch über Umwege, auf eine Versöhnung zwischen Stadt und Land ab. Tradition und Veränderung sollen zusammenfinden. Dialoge bestimmen den Film wohl auch, weil jeder eine Möglichkeit auf Verständnis mit sich bringt. In den langen Gesprächen prallen Überzeugungen aufeinander. Sinan spricht als Atheist mit zwei jungen Imamen und diskutiert über die Dogmen des Glaubens. Besonders erhitzt wird die Konfrontation mit dem erfolgreichsten Autor der Stadt, für dessen Roman Sinan spürbar wenig übrighat.

    Die Bilder wirken dabei oft wie schmückendes Beiwerk. Als hätte Ceylan eigentlich keinen Film drehen, sondern einen Roman schreiben wollen. Natürlich ist die visuelle Eben auch während den Wortgefechten von Bedeutung. Mit dem Autor diskutiert Sinan in einem Buchladen. Im Hintergrund sind verschwommen Plakate von berühmten Literaten zu erkennen. Hinter dem jungen Studenten hängt während der gesamten Szene ein Druck mit dem Gesicht von Franz Kafka – der Regisseur zeigt uns Sinans Ambitionen, seinen speziellen Zugang zur Literatur.

    Dennoch wirken einige visuelle Einschübe, als müsste unbedingt die filmische Qualität des Dramas bewiesen werden. Sie ragen wie Landzungen in die Wortmeere hinein und trennen Abschnitte wie Kapitelmarken. Wenn Zeit vergeht, zeigt das die Witterung. Weite Landschaftsaufnahmen visualisieren die Stimmung der Figuren, in der Regel ist alles karg und leer.

    Der Niedergang der Region und des Landlebens an sich bekommen im Verlauf des Films etwas Existenzbedrohendes. Gibt es eine Zukunft für Sinan, für seine Freunde und seine Familie? Immer wieder deuten Traumsequenzen ein düsteres Ende an. Sie werden als dramaturgischer Spezialeffekt da eingesetzt, wo Ceylan auf anderem Wege nicht weiterkommt. Selbstmorde werden angedeutet. Ein Kniff, der sich auf Dauer abnutzt und plump wirkt. Der Filmemacher glaubt nicht an die dramatische Kraft seiner Geschichte und muss deshalb eine zusätzliche Bedrohung etablieren. Das wirkt unehrlich: Warum die Lage so hoffnungs- und ausweglos sein soll, kann nie ganz vermittelt werden.

    Ein anderes Motiv in den Träumen ist eine Armee von Ameisen, die über menschliche Körper krabbeln. Womöglich ein Verweis auf den berühmten Kurzfilm „Ein andalusischer Hund“ des spanischen Regisseurs Louis Buñuel. Bei Ceylan ragen diese Szenen etwas windschief ins Bild. Man könnte sie auf Nichts und alles beziehen, ohne dass sie irgendeine Wirkung entfalten würden. Wie so vieles im Film wirken sie wie ein schlechter Einfall aus Sinans Roman, bei dem man nach drei Stunden sicherlich zu dem Schluss kommt, dass man ihn wohl eher nicht lesen wollen würde.

    Fazit: „The Wild Pear Tree” ist kein schlechter Film, aber ein unentschlossener und zerfahrener. Im Idealfall entwickelt Nuri Bilge Ceylans Kino einen gespenstischen Sog, es verzaubert und regt zu philosophischen Fragen an. Hier gelingt das nur in Ansätzen. Es gibt viele interessante Filme mit unsympathischen Hauptfiguren, auch von Ceylan selbst. Doch warum man mehr als 3 Stunden mit Sinai verbringen soll, wird nicht wirklich klar.

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