Der Fluch des zweiten Films
Von Michael MeynsDer zweite Film in der Karriere eines Regisseurs ist immer schwer. Aber er ist natürlich noch mal schwerer, wenn der erste Film nicht nur direkt im Wettbewerb von Cannes lief und dort mit einem der Hauptpreise bedacht, sondern anschließend direkt auch noch mit dem Oscar für den Besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde. Solch ein gigantischer Erfolg kann dann auch ganz schnell mal zur riesigen Last werden. In einer solchen Situation befand sich László Nemes, nachdem sein Debüt „Son Of Saul“ rund um den Globus für berechtigte Begeisterungsstürme sorgte. Und tatsächlich ist das inszenatorisch wagemutige KZ-Drama ein Erbe, an das der ungarische Regisseur mit seinem stilistisch erneut außergewöhnlichen, aber inhaltlich unnötig konfusen Historienfilm „Sunset“ nicht anzuknüpfen vermag.
Budapest im Jahr 1913: Die junge Irisz Leiter (Juli Jakab) kehrt in ihre Heimat zurück, um sich im besten Hutgeschäft der Hauptstadt um eine Stelle zu bewerben. Leiter heißt das Geschäft und gehörte einst ihren Eltern, was nun auch einer der Gründe dafür ist, dass der Geschäftsführer Oszkar Brill (Vlad Ivanov) sie zurückweist. Anstatt die Stadt wieder zu verlassen, wie ihr nachdrücklich geraten wird, bleibt Irisz in Budapest, als sie von einem ihr bislang unbekannten Bruder namens Kalman erfährt. Dieser soll eine Gruppe von Anarchisten anführen und für den Tod eines Adeligen verantwortlich sein. Irisz macht sich auf die Suche nach ihrem Bruder und gerät dabei in einen schon bald kaum noch zu durchschauenden Komplott aus Korruption, Menschenhandel und sexuellen Obsessionen. Und über all dem schwebt das Damoklesschwert des nahenden Ersten Weltkrieges...
Die Kamera meist so nah an der Hauptfigur, dass oft überhaupt nur ihr Hinterkopf im Bild zu sehen ist. Ein maximal subjektiver Blick, der Rest des Raumes und der Welt verschwimmt in Unschärfen. Mit diesem radikalen Stilmittel nahm sich László Nemes in „Son Of Saul“ des Holocausts an und schaffe es durch die Darstellung eines unbedingt subjektiven Blickes eines einzelnen Protagonisten, das kaum darstellbare Grauen doch so greifbar zu machen wie nur selten zuvor. Aber was bei seinem Debüt noch eine kongeniale visuelle Umsetzung eines erzählerischen Konzepts war, erweist sich im Nachfolger nun als filmischer Irrweg.
Wobei auch „Sunset“ rein stilistisch und technisch erneut atemberaubend ausfällt: Auf 35mm-Filmmaterial gedreht, von Kameramann Mátyás Erdély („Miss Bala“) in warmes, weiches Licht getaucht, ausschließlich in ausladenden Sets oder historischen Gebäuden gedreht, prachtvoll ausgestattet, voller opulenter Kostüme und ein wahres Fest für Hutfetischisten! Aber was erzählt Nemes da eigentlich in den fast zweieinhalb Stunden? Enorm viel Handlung presst er da in seinen Film. Oder sind es nicht doch viel mehr nur Andeutungen von Handlung:
Was genau Irisz Eltern widerfuhr, ist eine der zentralen Fragen. Welche Verbindungen das Habsburger Kaiserhaus nach Budapest unterhält, eine andere. Jüdische Namen deuten auf Antisemitismus als mögliche Motivation hin, die Anarchistengruppe hingegen auf jene Revolutionsgelüste, die schon bald zum verhängnisvollen Attentat auf Franz Ferdinand in Sarajevo und damit zum Ausbruch eines verehrenden Weltkriegs führen werden. Und nicht nur mit historischen Verweisen wirft Nemes um sich, auch kulturelle Bezüge findet man zu Hauf, von Zitaten aus T.S. Elliots „The Waste Land“ über Anlehnungen an Stefan Zweigs melancholischen Nachruf auf eine Ära „Die Welt von Gestern“. Dazu kommen filmische Anspielungen von Stanley Kubrick bis F.W. Murnau, dessen Stummfilm-Klassiker „Sonnenaufgang“ (im Original: „Sunrise: A Song Of Two Humans“) von 1927 Nemes laut eigenen Worten zu seinem Werk inspirierte.
Doch all diese Bezüge und Versatzstücke formen sich nicht zu einem stimmigen Ganzen, sie bleiben intellektuelle Angelhaken, an denen sich vielfältige Interpretationen festmachen lassen, die jedoch letztlich im luftleeren Raum hängenbleiben. Es mag sein, dass Nemes mit seinem nebulösen Ansatz, dem radikal subjektiven Blick seiner Hauptfigur, der es nie gelingt, Licht in das undurchschaubare Geschehen zu bringen, nur die Ungewissheit jener Zeit spiegeln wollte, die sich sehenden Auges auf eine Katastrophe zubewegte. Aber es ist ein feiner Unterschied zwischen den ungeklärten Mysterien, die etwa viele 1970er-Jahre-Paranoia-Thriller als Sinnbild der oft nicht mehr zu durchschauenden Realität aufwarfen, und der undurchschaubaren Handlung, wie sie Nemes in „Sunset“ benutzt, um mit ihr einen Kommentar zum Ersten Weltkrieg abzugeben.
Denn falls der ungarische Regisseur durch das Scheitern seiner Hauptfigur, die Ursachen des Schicksals ihrer Familie zu ergründen, andeuten möchte, dass auch die Ursachen des Ersten Weltkriegs nicht zu verstehen seien, liegt er grundlegend falsch. In 100 Jahren historischer Arbeit wurden die Ursachen des Zerfalls der europäischen Zivilisation längst ziemlich genau herausgearbeitet. Hier ein mysteriöses, von Verschwörungen geprägtes Sittenbild zu entwerfen, in der alles von unerklärlichen Kräften getrieben zu sein scheint, wirkt da leider kaum überzeugend. So eindrucksvoll „Sunset“ stilistisch auch geraten ist, als Historienfilm, der er im Kern nun mal bleibt, wirkt er letztendlich weit weniger zwingend.
Fazit: Stilistisch beeindruckend, höchst ambitioniert, aber durch seine kaum zu durchschauende Handlung als Historienfilm gründlich misslungen.