Heutzutage gibt es nur noch ein einziges westliches Land, in dem die Todesstrafe verhängt wird: die USA. In Südafrika hingegen wurde die Todesstrafe 1995 kurz nach dem Amtsantritt von Nelson Mandela für verfassungswidrig erklärt – nachdem allein in den 80er Jahren über 1.000 Menschen im südlichsten Land des „schwarzen Kontinents“ am Galgen gestorben waren. In seinem Justizdrama „Schäfer und Schlachter“, das bei der Berlinale 2016 in der Panorama-Sektion präsentiert wurde, setzt der in Kapstadt geborene deutsche Filmemacher Oliver Schmitz („Geliebtes Leben“) an diesem Punkt an: Seine Adaption von Chris Marnewicks gleichnamigem Roman liefert erschütternde Einblicke in den Arbeitsalltag und die Psyche eines jungen Wärters, der 1987 im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses Tag für Tag Todesurteile vollstreckt. Der trotz des Schauplatzes Pretoria zu großen Teilen in Kapstadt gedrehte „Schäfer und Schlachter“ ist ein spannendes und beklemmendes Drama um Recht und Gerechtigkeit, in dem sich Jungschauspieler Garion Dowds („The Gamechangers“) eindrucksvoll in den Vordergrund spielt.
In einer stürmischen Nacht im Jahr 1987 jagt der 19-jährige Leon Labuschagne (Garion Dowds) mit seinem Auto durch Pretoria. Als er von einem Kleinbus geschnitten wird, kommt es zur Katastrophe: Leon rastet aus und erschießt alle Insassen des Fahrzeugs – sieben dunkelhäutige Mitglieder eines Football-Clubs. Später muss er sich vor Gericht für die Morde verantworten. Sein Mandat übernimmt der renommierte Rechtsanwalt Johan Webber (Steve Coogan), aber die Todesstrafe für Leon, der selbst als Wärter in einem Hochsicherheitsgefängnis arbeitet, scheint unabwendbar: Richter van Zyl (Marcel van Heerden) ist bekannt für seine harten Urteile, und auch mit Staatsanwältin Kathleen Marais (Andrea Riseborough) ist nicht gut Kirschen essen. Was aber trieb den äußerlich besonnenen und schüchternen Familienvater zu der Gräueltat? Webber, der bei seinen Recherchen von seinem Kollegen Pedrie Wierda (Eduan van Jaarsveldt) unterstützt wird, findet heraus, dass Leon in den zwei Jahren vor seiner Tat sage und schreibe 160 Todesurteile vollstrecken musste. Haben die traumatischen Erfahrungen im Todestrakt zu dem Amoklauf geführt?
„Man kann von einem Mann nicht verlangen, gleichzeitig Schäfer und Schlachter zu sein“, klagt Rechtsanwalt Webber in seinem Schlussplädoyer an – und bringt damit nicht nur den Filmtitel, sondern auch die extreme psychische Belastung, der Leon Tag für Tag im Gefängnis ausgesetzt ist, auf den Punkt. Der in Südafrika aufgewachsene Filmemacher Oliver Schmitz unterbricht die spannende Verhandlung im Gerichtssaal regelmäßig durch Rückblenden in Leons Zeit als Wärter, in der dieser auch als Bezugsperson der Gefangenen gefragt war. Schnell bekommt man eine Ahnung davon, was das Ausführen von 160 Hinrichtungen in nur zwei Jahren bei einem jungen Erwachsenen anrichten muss, der ohne jedes Training ins kalte Wasser geworfen wird: Die Sequenzen im Todestrakt, in denen der letzte Gang der Häftlinge zum Galgen in düsteren Bildern nachgezeichnet wird, sind wahrlich nichts für schwache Nerven. Harte Ex-Gangster winseln im Angesicht des Todes um Gnade und pinkeln sich in die Hose – und wenn schließlich die Falltür nach unten kracht und ihre Genicke brechen, entleert sich der Inhalt von Blase und Verdauungstrakt auf den Fußboden.
Kamerafrau Leah Striker („Stiller Sommer“) fängt dieses für die Wärter zur Routine gewordene Verfahren schonungslos ein, ihren ungemein wirkungsvollen Bilder kann man sich kaum entziehen. Schon beim ersten Hinrichtungsakt an Leons zweitem Arbeitstag, bei dem sieben Häftlinge gleichzeitig gehängt werden, wird deutlich, was für einer psychischen Extrembelastung das unerfahrene Greenhorn ausgesetzt wird. Später bricht das Genick eines Gefangenen erst, nachdem die Wärter mehrfach Hand angelegt haben - der Zuschauer leidet hier ebenso mit wie bei der gewaltsamen Niederschlagung einer Gefängnisrevolte, die überwiegend mit Stuntmen und unerfahrenen Schauspielern gedreht wurde. Gekonnt hieven die Filmemacher den jungen Leon durch diese Bilder von der Täterrolle in die des Opfers: War sein siebenfacher Mord womöglich nur das Ventil für die traumatischen Erlebnisse? Ähnlich wie in Marc Roccos Alcatraz-Drama „Murder In The First“ wird beim Zuschauer geschickt das Mitgefühl mit dem Angeklagten geweckt, zu dem emotionalen Appell gesellen sich bedenkenswerte sachliche Argumente, sodass sich auch der Ausgang des Films völlig offen gestaltet. Von der Todesstrafe bis hin zum Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit scheint alles möglich.
Auf dem Weg zum Urteil setzt Drehbuchautor Brian Cox, der sich eng an Chris Marnewicks Romanvorlage hält, auf die typische Dramaturgie erfolgreicher Justizdramen: Sieht anfangs noch alles hoffnungslos aus, erscheint bald ein Silberstreif am Horizont, den es gegen die Mahnungen des skeptischen Richters und die Wirkungstreffer der Staatsanwaltschaft in ein gerechtes Urteil umzumünzen gilt. Auch wenn der Handlungsverlauf gelegentlich etwas schematischer wirkt als nötig, erschöpft sich die Figurenzeichnung erfreulicherweise nicht in Klischees: Einzig Webbers Kollege Wierda kommt etwas holzschnittartig daher – seine Bedenken bei der Übernahme des Mandats sollen die Aussichtslosigkeit des Falls unterstreichen. Die anfangs überhebliche Staatsanwältin Marais („Wenn das so weitergeht, ist der Prozess morgen vorbei!“) offenbart später menschliche Züge, während der britische Komiker Steve Coogan („Philomena“) die ungewohnte Rolle als aufopfernd kämpfender Moralist souverän aus dem Ärmel schüttelt. Unumstrittener Star des Films ist aber Jungschauspieler Garion Dowds: Der Südafrikaner brilliert als traumatisiertes Sensibelchen und gibt mit seiner facettenreichen Performance, die an Edward Nortons Auftritt im Justizthriller „Zwielicht“ erinnert, eine eindrucksvolle Visitenkarte ab.
Fazit: „Schäfer und Schlachter“ ist ein fesselnd-geradliniges Justizdrama und ein überzeugendes Plädoyer gegen die Todesstrafe.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2016. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.