In den USA ist die Tragikomödie „Begabt – Die Gleichung eines Lebens“ zum erfolgreichen Indie-Hit aufgestiegen. Die niedrigen Produktionskosten von nur sieben Millionen US-Dollar hat der Film mit rund 20 Millionen Einnahmen einen Monat nach dem zunächst kleinen Start längst wieder eingespielt – und außerhalb Nordamerikas war die Geschichte um ein hochbegabtes Mädchen und seinen fürsorglichen Ziehvater bis dahin noch kaum zu sehen. Obwohl mit „Captain America“ Chris Evans durchaus Starpower aufgeboten wird und Regisseur Marc Webb („(500) Days Of Summer“) spätestens seit „The Amazing Spider-Man“ ebenfalls zu den bekannteren Namen in Hollywood gehört, ist ein solcher Erfolg für einen so „kleinen“ Film durchaus ungewöhnlich. Erklären lässt er sich vor allem mit der großen Faszination für Superschlaue in den Vereinigten Staaten. Dort gehört es fast schon zum guten Ton, sich selbst oder seine Nachkommen auf einen überdurchschnittlich hohen Intelligenzquotienten testen zu lassen. Und wer mag, der lässt sich in sogenannten „IQ Camps“ oder Fördergruppen für potenziell Hochbegabte nachhelfen. Auch Marc Webb blickt nun mit Staunen und Bewunderung auf seine genial begabte Protagonistin, die hochkomplexe Rechenaufgaben binnen weniger Sekunden im Kopf lösen kann. Mit den persönlichen Bedürfnissen seiner kleinen Heldin setzt er sich in seinem allzu berechenbaren Film allerdings kaum auseinander.
Der ehemalige Philosophieprofessor Frank Adler (Chris Evans) zieht seit dem Tod seiner Schwester deren siebenjährige Tochter Mary (Mckenna Grace) groß. Seine aufgeweckte Nichte hat wie schon ihre Mutter ein Faible für Mathematik und komplexe Rechenaufgaben. Bereits am ersten Grundschultag beeindruckt das Mädchen Lehrer und Mitschüler durch sein atemberaubendes Zahlenverständnis. Für Marys fürsorgliche Klassenlehrerin Bonnie (Jenny Slate) steht fest: Die Kleine ist hochbegabt! Doch als sie und die Schulleitung Frank mit dieser alles andere als überraschenden Erkenntnis konfrontieren, blockt dieser ab. Er möchte Mary eine sorgenfreie Kindheit ermöglichen und sie nicht viel zu früh mit dem Ernst des Lebens konfrontieren. Leider sieht Franks Mutter Evelyn (Lindsey Duncan) das ganz anders. Sie findet, dass Mary, wie schon ihre Mutter, unbedingt gefördert werden muss. Die Auseinandersetzung endet vor Gericht: Nun müssen Außenstehende entscheiden, was für das hochbegabte Mädchen besten ist.
Der Originaltitel von „Begabt“ lautet „Gifted“, was den Kern der Geschichte nochmal etwas besser trifft: Für Marc Webb und seinen Drehbuchautor Tom Flynn („Watch it“) ist die Begabung des kleinen Mathegenies Mary in erster Linie ein Geschenk (= gift), das man ihr wegzunehmen droht, sofern man sie nicht angemessen fördert. Wer die für das Mädchen quälend primitiven Unterrichtseinheiten an ihrer Grundschule sieht, möchte seinen Lehrern jedenfalls sofort beipflichten, als diese Frank dazu ermuntern, Mary auf eine Schule für Hochbegabte zu schicken. Andererseits entsteht auch nicht gerade der Eindruck, dass Zahlen und Formeln der Siebenjährigen wirklich etwas bedeuten. Der Zuschauer sieht nur, dass das Mädchen mit der zuckersüßen Zahnlücke in Rekordschnelle Kopfrechnen kann. Ob und wie sehr das zu ihrem Glück und ihrer Zufriedenheit beiträgt, bleibt unklar. Daher ist es auch absolut verständlich, dass der von Chris Evans mit liebevoller Aufopferungsbereitschaft verkörperte Frank seine Nichte nicht in die Obhut von engagierten Mathematikern geben und sie stattdessen lieber ein ganz normales Leben führen lassen möchte: „Auch ein Albert Einstein konnte Fahrrad fahren!“, betont er.
Es ist allerdings andererseits auch nachgewiesen, dass Hochbegabte ohne spezielle Förderung zu Aggressivität, permanenter Anspannung und innerer Unruhe neigen. In Schulen werden derartige Verhaltensauffälligkeiten oft zu spät mit einer erhöhten Intelligenz in Verbindung gebracht. Daher ist der Konflikt, den Frank und seine Mutter in „Begabt“ austragen, im Grunde sehr realitätsnah und auch ein absolut filmwürdiges Thema. Auf der einen Seite steht die Perspektive einer wohlbehüteten Kindheit, auf der anderen Seite der Wunsch nach einer optimalen intellektuellen Förderung – das sind gewiss schwer unter einen Hut zu bringende Ansprüche, doch im Film werden sie nicht differenziert abgewogen, sondern recht schematisch zur absoluten Unvereinbarkeit zugespitzt.
Tom Flynn kratzt dabei auf beiden Seiten lediglich an der Oberfläche und bemüht Klischees: So ist Frank etwa deshalb so kritisch gegenüber der Begabtenförderung, weil er Angst davor hat, seine Nichte könnte dasselbe Schicksal wie seine suizidale Schwester ereilen, während Evelyn das Stereotyp einer nach Leistung und Anerkennung strebenden Mutter verkörpert, die das seelische Wohl ihres Kindes hintenan stellt. Erst viel zu spät geben die Filmemacher diese Schwarz-Weiß-Zeichnung auf und lassen die Figuren emotional nachvollziehbar und sachlich sinnvoll handeln. Das nimmt man an der Stelle wiederum vor allem Evelyn kaum noch ab, die bei dem zermürbenden Gerichtsstreit in der zweiten Filmhälfte zur zunehmend einfältigen Antagonistin geworden war. Chris Evans überzeugt als liebevoller Aushilfsvater, aber ansonsten bemühen sich die Schauspieler meist vergebens darum, das grob gezimmerte dramaturgische Korsett mit Leben zu erfüllen. Nur wenn die kleine Mary ihr erwachsenes Umfeld mal wieder ordentlich vorführt, fliegen die erzählerischen Funken: Das intelligente Mädchen hat es nämlich faustdick hinter den Ohren.
Fazit: In „Begabt – Die Gleichung eines Lebens“ erzählt Regisseur Marc Webb voller Faszination von einer hochbegabten Siebenjährigen, für die alle nur das Beste wollen. Die Frage, ob für das Kind die intellektuelle Förderung wichtiger ist oder eine friedliche Kindheit, beantwortet er allerdings hauptsächlich mit Plattitüden.