Seit Jahren arbeitet sich Pablo Larraín an der Geschichte seiner Heimat Chile ab. Besonders die Trilogie „Tony Manero“, „Post Mortem“ und „No“, in der er sich mit der Pinochet-Diktatur und ihren Folgen beschäftigte, machte ihn zum Star des Arthouse-Kinos, mit dem Gewinn des Silbernen Berlinale-Bären für die antiklerikale Tragikomödie „El Club“ untermauerte er diesen Status noch. Ein solcher Ruf verpflichtet und so ist Larraíns neuester Film „Neruda“ trotz des schlichten Titels dann auch mehr als ein simples Biopic über den wohl berühmtesten Chilenen der Geschichte, den Poeten Pablo Neruda. In seinem biografischen Drama, das 2016 bei der Quinzaine des Réalisateurs in Cannes uraufgeführt wurde, verknüpft der Regisseur Wahres mit Erfundenem und wirft dabei einen kritischen Blick auf Neruda als öffentliche Person und auf die Selbstwahrnehmung des Dichters. Das Ergebnis ist eine originell konstruierte Geschichte über die Faszination und die Notwendigkeit von Helden. Echten wie falschen.
Chile, 1948. Der vor zwei Jahren zum Präsidenten gewählte Gonzales Videla richtet seine Politik im beginnenden Kalten Krieg immer mehr nach rechts aus, er unterstützt die Vereinigten Staaten und unterdrückt Andersdenkende. Einer davon ist der weltbekannte Dichter Pablo Neruda (Luis Gnecco), der sich trotz seines Ruhms und seines Wohlstands als Kommunist bezeichnet. Der hochrangige Polizist Oscar Peluchonneau (hervorragend: Gael Garcia Bernal, „Mozart In The Jungle“) erhält die Aufgabe, Neruda zu diskreditieren und zu verhaften, dabei kommt sich der begeisterte Krimileser vor, als wäre er eine Figur aus einem von Nerudas Romanen und tatsächlich schafft Pablo Larraín so etwas wie die Verfilmung eines imaginären Buches des Schriftstellers …
Lange bevor man ihn sieht, ist die Stimme des Polizisten zu hören, der in literarisch anmutenden Worten von seiner Jagd auf Pablo Neruda berichtet. Es wird ein deutliches Macht- und Bekanntheitsgefälle etabliert: auf der einen Seite der weltberühmte Dichter, verehrt und umschwärmt, Mitglied des chilenischen Senats, die natürliche Haupt- und Titelfigur; auf der anderen Seite ein Bastard, der aus dem Nichts kommt und auch als Polizist kaum ernst genommen wird, eine groteske, fast schon tragische Gestalt, die eine Schöpfung Nerudas sein könnte. Der Regisseur verbirgt die Künstlichkeit seines Films nicht und legt seine Konstruktion offen: Er verwendet klar erkennbare Rückprojektionen, taucht seine Figuren mal in kaltes, mal in magisches, weiches Licht und treibt die Jagd des Polizisten nach dem Dichter in archaische Höhen, wie wir es aus diversen Spätwestern kennen.
„Neruda“ ist alles andere als eine Filmbiografie im klassischen Sinne. Vielmehr unternimmt Pablo Larraín den Versuch, der kollektiven chilenischen Psyche nahezukommen, indem er das Bedürfnis des Andenvolkes untersucht, einen Mann zum Helden zu küren, der als klassischer Salonkommunist weit entfernt war von den Sorgen und Nöten der Bevölkerungsmehrheit. Eine einfache Erklärung gibt es nicht, unverkennbar ist jedoch die poetische Kraft, die den Worten Nerudas beigemessen wird: Die Kunst ist seine Heldentat, nicht die Politik - andererseits lässt sich das kaum trennen. Letztlich sin der Künstler und der Polizist mit ihrer jeweils eigenen Ambivalenz und Komplexität gleichermaßen sinnbildliche Figuren für die ebenso ambivalente und komplexe Geschichte Chiles.
Fazit: Einmal mehr beschäftigt sich Pablo Larraín in „Neruda“ mit der komplizierten Psyche seiner chilenischen Landsleute und kreiert ein thematisch wie stilistisch reiches biografisches Drama – so etwas wie die Verfilmung eines Neruda-Buches, das dieser nie geschrieben hat.
Wir haben „Neruda“ im Rahmen der 69. Filmfestspiele von Cannes gesehen, wo der Film als Teil der Directors‘ Fortnight gezeigt wurde.