Regisseurin Amanda Sthers („Je vais te manquer“) beschreibt ihre erst zweite Regiearbeit „Madame“ selbst als eine Art „modernes ‚Cinderella‘“ – in ihrer Geschichte verliebt sich schließlich ein gewöhnliches Hausmädchen in einen wohlhabenden Mann der High Society. Sogar ein Schuh spielt eine Rolle, nur dass dieser hier nicht dafür sorgt, dass der Prinz seine Angebetete später wiedererkennt. Stattdessen wird das Schuhwerk zum Symbol vermeintlicher Stillosigkeit, wenn die vermögende Hausherrin Anne behauptet, dass ihre Angestellte ja schon allein deshalb nicht zur Upper Class gehören könne, weil der Luxusschuhdesigner Manolo Blahnik keine High Heels in ihrer Größe 43 anfertigen würde. Die Filmemacherin greift in „Madame“ klassische Märchenmotive auf und entlarvt die Oberschicht als nach außen makellose, nach innen dafür umso hässlichere Gesellschaft, die den materiell unterlegenen „einfachen Leuten“ auf menschlicher Ebene deutlich hinterherhinkt. Mit spitzfindigen Beobachtungen und doppelbödigen Dialogen schlägt Sthers aus der Prämisse satirische Funken und macht aus „Madame“ eine kurzweilige Tragikomödie.
Die Amerikanerin Anne Fredericks (Toni Collette) und ihr Mann Bob (Harvey Keitel) leben auf einem noblen Anwesen in der Nähe von Paris. Als die perfektionistische Societylady eine ihrer angesagten Dinnerpartys veranstaltet, bringt ihr unerwartet aufkreuzender Stiefsohn Steven (Tom Hughes) alles durcheinander: Aus zwölf werden 13 Tischgedecke – für die abergläubische Hausherrin ein absolutes No-Go. Um niemanden kurzfristig auszuladen, beschließt sie, ihre treue Angestellte Maria (Rossy de Palma) als 14. Gast hinzuzuholen. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass ihre wahre Identität als Dienstmädchen geheim bleibt. So schlüpft Maria in die Rolle einer fernen, adeligen Verwandten von Anne und bandelt zu Tisch mit dem wohlhabenden Kunsthändler David (Michael Smiley) an. Als die Flirterei zwischen den beiden auch noch nach dem Abendessen anhält, beschließt Anne, der aufkeimenden Liebe einen Strich durch die Rechnung zu machen. Doch das ist leichter gesagt als getan…
Die 1964 geborene Spanierin Rossy de Palma („Julieta“) mag auf den ersten Blick nicht dem medial geprägten Schönheitsideal entsprechen, aber sie hat eine unverwechselbare Ausstrahlung, die sie nicht nur zur Muse von Modedesigner Jean Paul Gaultier und Regisseur Pedro Almodóvar macht, sondern auch zu einem der größten Stars des aktuellen spanischen Kinos. Und sie setzt nun auch dem englischsprachigen Debüt der französischen Regisseurin Amanda Shters die Glanzlichter auf. Als von jetzt auf gleich aus ihrem Alltag als Haushaltshilfe gerissene Angestellte, die ganz plötzlich selbst die Privilegien der Oberen Zehntausend genießen darf, manövriert de Palma ihre Figur in ihrer betonten Unbeholfenheit zwar nah an die Grenze zur Karikatur. Doch zugleich wirkt ihre Unsicherheit so charmant und ihr Auftreten so natürlich, dass die um Haltung bemühte Gesellschaft von der Fremden angetan ist. Salopp formuliert, bringt sie mit ihrer ehrlichen Art und dem einen oder anderen Schmuddelwitz endlich einmal Leben in die Bude. Was von der stets überkorrekten Anne gar nicht gern gesehen wird. Dabei verwechselt die von einer starken Toni Collette („Im Himmel trägt man hohe Schuhe“) verkörperte Gastgeberin, die hinter ihrem Standesdünkel die gehörige Unsicherheit eines Emporkömmlings verbirgt, Gepflogenheiten mit Manieren: Wenngleich sich Maria nicht auf Anhieb unfallfrei in die stocksteife Gesellschaft einfügt, verhält sie sich nie ungalant.
Obwohl das nach einer halben Filmstunde beendete Dinner in seiner Dynamik und durch die Konzentration auf einen Schauplatz deutlich das stärkste Drittel des Films ist, geht „Madame“ danach eigentlich erst so richtig los. Als sich der ahnungslose David in die vermeintliche Adelige verliebt, geht es der Regisseurin weniger um den Clash zwischen Arm und Reich (so lässt sie etwa bis zuletzt offen, ob David nicht längst hinter die wahre Herkunft seiner Angebeteten gekommen ist). Das Hauptaugenmerk liegt stattdessen darauf, wie die Gastgeberin Anne auf die aufkeimende Liebelei reagiert. Die sieht sich nämlich plötzlich in ihrem Ansehen bedroht, als sie erkennt, wie einfach es doch zu sein scheint, selbst ein Teil der Upper Class zu werden. Aus der ehemals so zuvorkommenden Chefin wird plötzlich eine despotische Herrin, die Maria am Ende sogar erpresst und ihr mit dem Rauswurf droht, wenn sie den Kontakt zu David nicht aufgibt. In einer gerade in ihrer Beiläufigkeit bestürzenden Szene vergleicht Marias Kollegin sich und die anderen Hausmädchen ganz selbstverständlich mit Sklaven – und schaut man sich ihre Abhängigkeit vom Wohlwollen ihrer Chefin an, dann ist das gar nicht so weit hergeholt. Genauso wenig wie das unaufgeregte, prägnante und alles andere als märchenhafte Ende, das „Cinderella“ und Co. mit einem Schlag als Kleinmädchenfantasien entlarvt.
Fazit: „Madame“ beginnt als bissige Kammerspiel-Komödie über die oberen Zehntausend und mündet schließlich in ein leichtfüßiges Gesellschaftsdrama mit pointiertem Ende.