Im ersten Moment würde wohl niemand auf den geradezu absurd erscheinenden Gedanken kommen, dass die zehnjährige Melanie (eine echte Entdeckung: Sennia Nanua) eine Bedrohung darstellen könnte. Sie ist im Gegenteil sogar extrem zuvorkommend, wenn sie sich in ihren Rollstuhl setzt und sich selbst die Fesseln anlegt, schon bevor die schwerbewaffneten Soldaten in ihre Zelle kommen, um sie (ihre Bewacher sprechen immer nur von „es“) zum morgendlichen Unterricht mit ihren gleichaltrigen, ebenfalls schwer gesicherten Klassenkameraden zu bringen. Der Auftakt von Colm McCarthys Bestsellerverfilmung „The Girl With All The Gifts“ ist ebenso mysteriös wie verstörend, wenn all diese Kinder an ihren Stühlen festgekettet das Periodensystem pauken, wenn Melanie schon in Ekstase verfällt, nur weil ihre Lehrerin Helen Justineau (Gemma Arterton, „Hänsel und Gretel: Hexenjäger“) ihr einmal beiläufig über den Kopf streichelt, wenn die ganze Klasse zu zähnefletschenden Bestien mutiert, als Sergeant Eddie Parks (Paddy Considine, „Das Bourne Ultimatum“) ihnen zur Demonstration ihrer Gefährlichkeit seinen nackten Arm hinhält. Melanie ist hochintelligent, strebsam, immer freundlich und extrem tödlich - also so etwas wie die Lisa Simpson unter den Zombies. Und gerade diese Ambivalenz macht den Horror-Thriller „The Girl With All The Gifts“ so faszinierend.
Während draußen die normalen - hier „Hungries“ genannten - Zombies (also rein instinktgetriebene Frischfleischjunkies) wüten, sind Melanie und ihre Kameraden eine ganz besondere Brut – sie wurden nämlich von Müttern geboren, die sich während ihrer Schwangerschaft mit dem Zombievirus infiziert haben. Für die rigorose Forscherin Dr. Caroline Caldwell (in ihrer Konsequenz grandios: Glenn Close, „Eine verhängnisvolle Affäre“) ist dieser Zombie-Nachwuchs ein möglicher Schlüssel für eine Heilung – allerdings muss sie erst einmal herausfinden, ob die Kinder tatsächlich noch menschliche Emotionen haben oder ob sie dank ihrer Intelligenz einfach nur dazu in der Lage sind, menschliches Verhalten zu imitieren. So fragt die Wissenschaftlerin ihre minderjährigen Forschungsobjekte wiederholt nach einer beliebigen Zahl zwischen 1 und 20 (und bekommt meist dieselbe Antwort) oder konfrontiert Melanie mit dem Gedankenexperiment um Schrödingers Katze. Spannend ist dabei vor allem die Reibung zwischen den widerstreitenden Perspektiven – während der Zuschauer Melanie zunächst als liebenswertes, offenbar harmloses Mädchen kennenlernt, haben die erwachsenen Figuren im Film bereits eine Zombie-Apokalypse mit Millionen von Toten hinter sich, weshalb sie den Kindern (verständlicherweise) mit zurückhaltender Skepsis oder sogar blanker Verachtung begegnen.
Nach einer besonders verheerenden Angriffswelle auf die Militärbasis fliehen die Überlebenden in Richtung London, wobei sie schnell feststellen, dass sie es leichter durch die Zombiemassen schaffen, wenn sie sich von Melanie (die sich unbehelligt zwischen Untoten bewegen kann) helfen lassen, statt sie mit Mundschutz am Wagen festzuketten. In diesem Abschnitt gleicht „The Girl With All The Gifts“, dessen Drehbuch Mike Carey nach seinem eigenen gleichnamigen Roman verfasst hat, dann schon eher einem üblichen Zombie-Road-Movie, wobei die auf dem Papier nicht neuen Stationen hier trotzdem wieder frisch wirken, weil die verschiedenen Sichtweisen der Gruppenmitglieder auf Melanie so stimmig herausgearbeitet werden und sich die eigentlich bekannten Herausforderungen mit einem Zombie-Mädchen als Verbündete ganz anders anpacken lassen. Besonders gelungen ist auch das Finale, das je nach Lesart entweder erschütternd zynisch oder erfreulich hoffnungsfroh gerät – so bleibt die gleich zu Beginn etablierte Ambivalenz noch über den Abspann hinaus bestehen.
Fazit: Dass „The Girl With All The Gifts“ als Genrefilm ausgerechnet das auf Filmkunst spezialisierte Festival in Locarno eröffnen durfte, verwundert nur auf den ersten Blick. Denn der britische TV-Veteran Colm McCarthy („Sherlock“) liefert einen Zombie-Thriller mit moralisch-philosophischem Anspruch, der nicht nur schwer fasziniert, sondern – vor allem dank der herausragenden Leistung von Nachwuchsdarstellerin Sennia Nanua - auch tief berührt.