Eines muss man den „Tatort“-Machern lassen: Trotz der schwankenden Qualität der mittlerweile über 30 Neuausstrahlungen pro Kalenderjahr gelingt es den Autoren der beliebten Krimireihe immer wieder, mit ihren Drehbüchern den Nerv der Zeit zu treffen. Zuletzt war das zum Beispiel beim vielgelobten Dortmunder „Tatort: Hydra“ der Fall, der im Neonazi-Milieu spielte und in Zeiten von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte und PEGIDA-Demonstrationen viel Lob von Presse und Publikum erhielt. Regisseur und Drehbuchautor Rupert Henning („Nordwand“) legt in seinem Wiener „Tatort: Grenzfall“ nun ebenfalls den Finger auf den Puls der Zeit. Während sich die Krise in der Ost-Ukraine zuspitzt und so mancher die düsteren Wolken eines neuen Kalten Krieges heraufziehen sieht, schlägt der österreichische Filmemacher den Bogen ins Jahr 1968: Hennings greift eine wahre Geschichte aus der tschechoslowakisch-österreichischen Grenzregion auf, in der es speziell nach der Niederschlagung des Prager Frühlings viele Tote zu beklagen gab. Dieses durchaus ambitionierte Vorhaben ergibt unter dem Strich aber nur einen durchschnittlichen, insgesamt ziemlich unrund wirkenden „Tatort“.
Bei einer Paddeltour auf dem tschechisch-österreichischen Grenzfluss Thaya fällt der 45-jährige Tscheche Radok plötzlich ins Wasser. Kurz darauf wird seine Leiche geborgen. Unfall oder Mord? Für den Wiener Chefinspektor Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und seine Kollegin Bibi Fellner (Adele Neuhauser), die von ihrem neuen Assistenten Manfred Schimpf (Thomas Stipsits) unterstützt werden, kommt der Fall wie gerufen: Ihr Vorgesetzter Ernst Rauter (Hubert Kramar) wollte sie gerade zum Abarbeiten alter Aktenberge nötigen. Die Ermittler brechen nach Niederösterreich auf und finden heraus, dass Radok durch Fremdverschulden zu Tode kam. Aber wo liegt das Motiv? Vor Ort treffen sie auf den Journalisten Max Ryba (Harald Windisch), auf den Eisner gar nicht gut zu sprechen ist. Der Reporter weiht Fellner in die Recherchen über seinen verschollenen Vater ein: Ende der 60er Jahre lockte der tschechoslowakische Geheimdienst Republikflüchtlinge mit einer fiktiven Grenze in die Falle – ein heimtückischer Plan, der nur dank der Kooperation mit jungen Österreichern funktionierte. Musste Radok sterben, weil er einstige Kollaborateure zur Rechenschaft ziehen wollte?
Grenzüberschreitende Ermittlungen, wie sie Rupert Henning im „Tatort: Grenzfall“ thematisiert, haben in der Krimireihe Tradition: Bereits Zollfahnder Kressin (Sieghardt Rupp) ermittelte Anfang der 70er Jahre im europäischen Ausland, und in den 90ern war es der Saarbrücker Hauptkommissar Palu (Jochen Senf), den es in Regionen jenseits der deutsch-französischen Grenze verschlug. Von den aktuellen „Tatort“-Teams sind es meist die Kieler Kollegen Borowski (Axel Milberg) und Brandt (Sibel Kekilli) oder die Konstanzer Ermittler Blum (Eva Mattes) und Perlmann (Sebastian Bezzel), die mit den Behörden aus Skandinavien und der Schweiz zusammenarbeiten (müssen). Doch auch das Wiener „Tatort“-Gespann durfte zuletzt Auslandsluft schnuppern: Im „Tatort: Paradies“ ermittelten Eisner und Fellner 2014 hinter der ungarischen Grenze, und ausländische Geheimdienste haben bei den „Tatort“-Beiträgen aus Österreich ohnehin Hochkonjunktur. Nun ist die tschechische Staatspolizei in Person von Ester Tomas (Darina Dujmic) mit von der Partie, die bei ihrem kurzen Gastspiel allerdings blass bleibt und nur durch kleinere Sprachwackler („Sagt man das so?“) auf sich aufmerksam macht.
Überhaupt hat man das Gefühl, dass Regisseur und Drehbuchautor Henning ein bisschen zu viel in seinem Krimi unterbringen wollte: Tomas muss sich gegen Amtsmief und Widerstände in den eigenen Reihen behaupten, bei Bio-Unternehmer Josef Karger (Lukas Resetarits) und seiner energischen Ehefrau Dani (Isabel Karajan) hängt der Haussegen schief, und die kesse Archäologie-Professorin Thiele-Voss (Andrea Clausen) und ihr unterbezahlter Assistent Schmiedt (Marcel Mohab) graben am Ufer der Thaya mysteriöse Hundeskelette aus. Das ist reichlich Stoff für 90 „Tatort“-Minuten – und spätestens wenn Fellner und Ryba nach einem hölzern inszenierten Sturz in einen allenfalls knietiefen Fluss beim Kleidungswechsel auf Tuchfühlung gehen, verkommt das Krimidrama mit historischem Anspruch vorübergehend zur Klamotte. Passend zu den vielen heiteren Momenten, die so gar nicht zur ernsten Grundausrichtung der Geschichte passen wollen, erklingt immer wieder klamaukige Musik, die einer lockeren Krimikomödie deutlich besser zu Gesicht gestanden hätte. So wirkt auch die Abspann-Einblendung „Zur Erinnerung an die Opfer auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs“ am Ende etwas überambitioniert.
Seine stärksten Momente hat der 938. „Tatort“ dann, wenn sich Henning und Kollegen auf Rybas Recherchen über dessen Vater und seinen undurchsichtigen Jugendfreund Fritz Gassinger (Charly Rabanser) konzentrieren: Die knackig inszenierten Rückblenden in die Zeit des Prager Frühlings sorgen für seltene Spannungsmomente in einem „Tatort“, der ansonsten eher von seinen bissigen Dialogen lebt. Eisner und Fellner, deren köstliche Streitgespräche meist allein schon das Einschalten wert sind, ermitteln in der ersten Krimihälfte allerdings getrennt voneinander, so dass andere in die Bresche springen: Archäologin Thiele-Voss haut einen frechen Spruch nach dem nächsten raus („Immer die Bilder zeigen, Laien lieben Bilder!“) und der neue Assistent „Fredo“ Schimpf („Klingt a bissl wie an Imperativ, oder?“) stiehlt mit seinem markant-sympathischen Grunzlachen mehrere Szenen. Die Hörsaal-Sequenz mit Eisners altem Weggefährten Professor Kreindl (Günter Franzmeier) und dessen herrlich überzeichneten Studierenden (die während der Vorlesung zum Beispiel Nudelsnacks mampfen) ist hingegen eine erfrischende Variation der obligatorischen Pathologie-Besuche, die seit jeher so fest zum „Tatort“ gehören wie das Vorspann-Fadenkreuz im Auge von Horst Lettenmeyer.
Fazit: Rupert Henning erzählt im „Tatort: Grenzfall“ eine wahre Geschichte von Tätern und Opfern diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs. Das Ergebnis ist ein interessanter, aber überfrachteter Krimi aus Österreich, bei dem der Filmemacher nicht immer den richtigen Erzählton trifft.