Nach der Weltpremiere bei den Filmfestspielen in Cannes 2014, wo „Leviathan“ mit viel Lob und dem Preis für das Beste Drehbuch bedachte wurde, hatte Andrey Zvyagintsevs Drama den Ruf weg, eine extrem kritische Auseinandersetzung mit der russischen Gegenwartsgesellschaft, ja geradezu ein Anti-Putin-Film zu sein. Auch bei der Vorführung auf dem Berliner Festival Around the World in 14 Films, wo „Leviathan“ zur Eröffnung lief, wurde dieser Aspekt immer wieder betont, als wäre allein Kritik an einem zumindest umstrittenen Land ein Qualitätskriterium. Geflissentlich ignoriert wird dabei, was Zvyagintsev selbst immer wieder betont, zum Teil vielleicht auch aus Selbstschutz: Es geht hier nicht um bloße Kritik an Russland, sondern um eine moderne Hiob-Geschichte, bei der ein Mann in die Fänge eines Netzes von Korruption und Machtmissbrauch gerät. Und diese Geschichte ist ebenso universell, wie eindrucksvoll umgesetzt.
Im Norden Russlands, in einem kleinen, langsam zu Grunde gehenden Fischerdorf, hat sich Kolia (Alexey Serebryakov) eine ordentliche Existenz aufgebaut: Er arbeitet als Mechaniker und lebt mit seinem Sohn Romka (Sergey Pokhodaev) und seiner zweiten Frau Lilya (Elena Lyadova) in einem Haus am Wasser. Doch genau auf dieses Grundstück hat es Bürgermeister Vadim (Roman Madyanov) abgesehen und versucht daher, Kolia zu enteignen. Dessen alter Armee-Kumpel Dmitriy (Vladimir Vdovichenkov) ist inzwischen Anwalt in Moskau und will seinem Freund zu helfen, doch die mafiösen Strukturen sind zu festgefahren, die Korruption zu mächtig. Spätestens als Dmitriy auch noch eine Affäre mit Lilya beginnt, gerät Kolias Existenz vollends aus der Bahn...
Auf vier Säulen ruht der inzwischen vierte Film von Andrey Zvyagintsev, der sich mit „The Return“, „Die Verbannung“ und „Elena“ innerhalb weniger Jahre als einer der bedeutendsten Regisseure unserer Zeit etabliert hat, den unmittelbaren Auslöser lieferte eine Geschichte, die sich in Amerika zugetragen hat: Ein Mann, der sich vom Staat ungerecht behandelt fühlte, zerstörte mit einem Bagger mehrere Häuser. Die Ähnlichkeit zu Heinrich von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“, der zweiten Inspirationsquelle, ist offensichtlich, hinzu kommen noch die beiden Leviathans - das biblische Ungeheuer aus dem Meer, das im Buch Hiob sein Unwesen treibt, und schließlich Thomas Hobbes Traktat „Leviathan“, in dem es nicht zuletzt um das Zusammenspiel von Kirche und Staat geht. Alle diese Elementen lässt Zvyagintsev in seinen Film einfließen, der trotz aller Symbolkraft und Tragik aber erstaunlich eingängig und humorvoll ist. Eine Szene, in der Kolia und seine Freunde Schießübungen machen und dabei auch auf ausgediente Porträts russischer Politiker – von Lenin bis Gorbatschow – zurückgreifen, scheint ein überdeutlicher Moment der Systemkritik zu sein, doch auf diese komische Einlage folgt schnell wieder die Tragik des modernen Hiob Kolia, der die Affäre seiner Frau entdeckt. Mit einer einseitigen Lesart wird man diesem Film mit seinen zahlreichen Querbezügen und sich ergänzenden Ebenen nicht gerecht werden.
Zvyagintsev geht es um viel mehr, als um ein bloßes Aufzeigen der Korruption in Russland, wo auch das Rechtssystem dem normalen Bürger keinen Schutz vor den kriminellen Machenschaften der Mächtigen gibt. Solche Strukturen finden sich in vielen Ländern, der Obrigkeit machtlos gegenüber zu stehen, ist etwas, das auch in den Untiefen der Bürokratien in den „besten“ Demokratien passieren kann. Kolia ist also nicht speziell ein Opfer des russischen Systems, sondern eine universelle Figur, die sich der Ungerechtigkeit der Welt nicht einfach beugt, sondern für ihr Recht kämpft und dabei scheitert. Diese archetypische Prämisse nutzt Zvyagintsev, um ein reiches Gesellschaftsbild zu entwerfen, bei dem er die eigentliche Hauptfigur oft auch mal längere Zeit aus den Augen verliert. Minutenlang verfolgt man da etwa Dmitriy oder Lilya oder sieht den Bürgermeister mit einem orthodoxen Priester debattieren, bevor die Handlung wieder zu ihrem Zentrum zurückkehrt. Das wirkt manchmal ein wenig zerfahren, entwickelt durch das genaue und geduldige Hinsehen sowie die zahlreichen, eng verzahnten Themen aber auch epische Qualität. So zählt Zvyagintsevs Drama nicht etwa wegen seiner unterschwelligen Kritik am russischen System, sondern wegen seiner Vielschichtigkeit zu den besten Filmen des Jahres.
Fazit: In seinem herausragenden Drama „Leviathan“ verlegt der russische Regisseur Andrey Zvyagintsev die biblische Hiob-Geschichte in die Gegenwart und entwirft das großangelegte, universell gültige Panorama einer Gesellschaft, in der das Individuum an den Strukturen von Staat, Justiz und Klerus zugrunde geht.