Weltkriegs-Puppen als Beruhigungs-Therapie
Von Antje Wessels18 Jahre ist es her, dass der damals 38-jährige Mark Hogancamp von fünf zum Teil rechtsradikalen Teenagern auf offener Straße ins Koma geprügelt wurde. Allerdings war es wohl gar nicht in erster Linie diese Tat, sondern die Art und Weise, auf die Hogancamp das Geschehene verarbeitet, die den Regisseur Jeff Malmberg 2010 zu seiner vielfach preisgekrönten Dokumentation „Marwencol“ inspirierte: Um seine motorischen Fähigkeiten wiederzuerlangen und mit dem psychischen Trauma des Angriffes umzugehen, begann Hogancamp damit, in seinem Garten das Miniaturmodell eines belgischen Dorfes zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges zu bauen und mithilfe von nach realen Vorbildern designten Puppen fiktive Kriegsabenteuer durchzuspielen. Die dabei von ihm geschossenen Fotos erregten später sogar die Aufmerksamkeit der New Yorker Kunstwelt, weshalb ihm die One Mile Gallery in Kingston schließlich sogar eine eigene Ausstellung seiner Werke ermöglichte.
Für die Spielfilm-Adaption von „Marwencol“ zeichnet nun niemand Geringeres als Regielegende Robert Zemeckis („Zurück in die Zukunft“, „Forrest Gump“) verantwortlich. Nachdem er sich in seinem Artisten-Biopic „The Walk“ zuletzt noch damit befasste, wie die Welt von oben aussieht, begibt er sich in „Willkommen in Marwen“ nun für viele Szenen auf Augenhöhe mit rund 30 Zentimeter großen Actionpuppen. Wenn Hogancamp in seinem Garten wieder einmal aufregende Kriegsabenteuer mit seinen Plastikfreunden nachspielt, entfalten sich auf der Leinwand spektakuläre Motion-Capture-Manöver, bei denen es sich auszahlt, dass ihr Schöpfer schon mehrere Anläufe in diesem Genre unternommen hat (von „Der Polarexpress“ über „Die Legende von Beowulf“ bis zu „Disneys Eine Weihnachtsgeschichte“). Auf der anderen Seite schildert „Willkommen im Marwen“ behutsam, wie sich ein vom Schicksal gebeutelter Mann wieder zurück ins Leben kämpft und dabei jede Menge Rückschläge einstecken muss. Dabei finden die beiden Ebenen nicht immer stimmig zusammen. Aber dass einem kein zweiter Film einfällt, der auch nur so ähnlich anmutet, zeigt eben auch, was für ein besonderes Unikat „Willkommen in Marwen“ ist.
Mark Hogancamp (Steve Carell) war einmal ein talentierter Maler, bis er eines Nachts von einer Gruppe Jugendlicher in ein neuntägiges Koma geprügelt wurde. Seitdem ist nichts mehr wie es mal war: Mark musste nicht nur einfachste motorische Abläufe neu lernen und schluckt noch immer regelmäßig Tabletten gegen seine Angstzustände, er kann sich auch nicht mehr an sein Leben vor dem Angriff erinnern. Um mit diesem Zustand umzugehen, entwickelt er eine ganz eigene Form der Therapie. In seinem Garten hat er das Modell einer belgischen Stadt namens „Marwen“ gebaut. In dieser erlebt sein Puppen-Alter-Ego Captain Hogie aufregende Kriegsabenteuer an der Seite von mutigen Frauen, die er ebenfalls nach Vorbildern aus seinem echten Leben gestaltet hat. Als eines Tages die sympathische Nicol (Leslie Mann) in das Haus gegenüber einzieht, begibt sich Mark langsam aus seiner Deckung heraus und knüpft freundschaftliche Bande zu der zuvorkommenden Teeliebhaberin. Doch immer wieder zwingen ihn seine Panikattacken dazu, sich erneut in die Welt von Marwen zu flüchten...
„Willkommen in Marwen“ beginnt wie ein Kriegsfilm: Steve Carrell manövriert sich in einem Flugzeug durch mehrere Explosionen, wird dann aber doch getroffen und entsteigt seiner abgestürzten Maschine gerade noch rechtzeitig mit bereits brennenden Schuhsohlen. Das ist von Chefkameramann C. Kim Miles („Mortal Kombat: Legacy“) so dynamisch gefilmt, dass man erst ganz langsam beginnt, die verschobene Perspektive wahrzunehmen – denn Captain Hoagie ist keine typische Motion-Capture-Figur, bei der ein größtmöglicher Realitätsgrad erreicht werden soll, sondern eben eine animierte Puppe, die hier mit einem durchaus herausfordernden Look zum Leben erweckt wird, den man so noch nie im Kino gesehen hat.
Robert Zemeckis hat dafür zum Teil sogar eine ganz eigene Filmsprache entwickelt, um mit den Puppen-Figuren ganz anders umzugehen als mit gewöhnlichen CGI-Charakteren: Fällt zum Beispiel eine Figur aus großer Höhe auf einen spitzen Gegenstand, bricht sie ganz unspektakulär in der Mitte durch, statt brutal aufgespießt zu werden. Auch die Art, wie der Tod einer Puppe visualisiert wird, ist ziemlich clever gelöst – man weiß sofort was gemeint ist, wenn sich die Gliedmaßen plötzlich puppenhaft versteifen. Zugleich sind die Bewegungen aber viel flüssiger als bei klassischen Puppen-Stop-Motion-Filmen. Am ehesten erinnert „Willkommen in Marwen“ technisch noch an „Small Soldiers“ (1998). Ein zunächst gewöhnungsbedürftiger, aber dann unbedingt faszinierender visueller Stil.
Aber nicht nur der visuelle Stil der Animationsszenen ist ein wenig widerborstig, auch sonst verzichtet Zemeckis glücklicherweise darauf, die wahre Geschichte zugunsten eines leichter zu goutierenden Wohlfühl-Dramas glattzubügeln. Zum einen hat das Miniaturwelt-Marwen einen gehörigen, erotisch aufgeladenen Fetisch-Anstrich mit seinen aufreizenden Soldatinnen und hochstilisierten Folterszenen, die an Naziploitation-Werke erinnern. Zum anderen erweist sich Mark Hogenkamp auch im realen Leben nicht immer als ganz so umgänglicher Zeitgenosse – ein Heiratsantrag an seine neue Nachbarin ist sogar dermaßen daneben, dass man sich im Kinosessel vor Fremdscham schon ganz schön windet. Und auch Steve Carrell lässt sich voll auf diese Ambivalenz ein: Sein Mark Hogenkamp ist kein klassischer Sympathieträger – und gerade deshalb berührt seine Geschichte so sehr, weil sie sich einfach wie tatsächlich gelebt anfühlt.
Das gilt aber leider nicht für die Frauen im Film, bei denen sich auch die Versionen aus Fleisch und Blut ähnlich glatt und leblos anfühlen wie ihre von Mark erschaffenen Plastik-Abbilder. Egal ob Eiza González als Arbeitskollegin in einem Diner, Leslie Mann als neue Nachbarin oder Merritt Wever als Modelbauverkäuferin – sie alle kreisen ausschließlich um Mark und scheinen hier nur zu existieren, um möglichst lieb zu ihm zu sein. Ein altes Hollywood-Klischee, das sich in diesem Fall nicht nur deshalb besonders negativ auswirkt, weil sich Mark eben gerade so vielschichtig und echt anfühlt, sondern auch, weil sich so der angestrebte Kontrast zwischen der realen Welt und dem Miniatur-Nachbau aufzulösen droht: Denn wenn sich in einigen Szenen schon das echte Leben wie ein künstliches Märchen anfühlt, gibt es eigentlich gar keinen Grund mehr, sich in ein Zweiter-Weltkrieg-mit-Ladies-in-High-Heels-Szenario zu flüchten.
Fazit: Mit „Willkommen in Marwen“ kombiniert Robert Zemeckis erotisierte Kriegs-Puppen-Action wie aus einem alten Groschenroman mit einem sensiblen Drama über einen Traumapatienten. Eine radikale Mischung, die das Publikum sehr viel mehr herausfordert als die üblichen glattgebügelten Wohlfühl-Oscardramen.