„Gefühle ändern sich ständig“, heißt es einmal in „Alice und das Meer“. Auf die von Ariane Labed („The Lobster“) gespielte Protagonistin, die in dem Drama eine intime emotionale Reise durchlebt, trifft das jedenfalls zu. Weil einer der Seemänner an Bord des schrottreifen Containerschiffs „Fidelio“ bei einem Unfall ums Leben kommt, stößt Alice als zweite Mechanikerin zur rein männlichen Besatzung. In der Kajüte des Toten entdeckt Alice dessen Tagebuch. Die Beschreibungen ihres Vorgängers vom täglichen Leben auf hoher See und der Arbeit im lärmenden Maschinenraum decken sich mit ihrer eigenen melancholischen Stimmung. Ihre Gefühle geraten weiter durcheinander, als sie eine Affäre mit dem Kapitän Gaël (Melvil Poupaud) anfängt - ihrer großen Liebe aus der Kadettenzeit –, während sie zugleich ihren in Marseille zurückgelassenen Freund Felix (Anders Danielsen Lie) vermisst. Das aus dem Lot geratene Gefühlsleben der Protagonistin steht im Mittelpunkt des freizügigen Dramas, mit dem die französische Schauspielerin Lucie Borleteau ihr Regiedebüt vorlegt.
Mit präzisem beobachtenden Blick schaut die Filmemacherin auf den Alltag der Schiffsbesatzung, auf die Plackerei im Maschinenraum, aber auch auf die Landgänge, die gemeinsamen Besäufnisse oder den Aberglauben der philippinischen Crewmitglieder – bisweilen wirkt „Alice und das Meer“ dadurch geradezu dokumentarisch. Aber schon allein der Umstand, dass mit Alice eine Frau an Bord kommt, verleiht dem Einerlei der routinemäßig ablaufenden Tage eine zunächst unterschwellige dramatische Spannung. In einer ihrer ersten Nächte auf dem Frachtschiff steigt einer der Matrosen in ihre Kajüte und belästigt sie, doch Alice weiß sich zu wehren. Ihre Affäre mit dem Kapitän ist dann zugleich Ausdruck ihrer Orientierungslosigkeit wie auch ihrer sexuellen Selbstbestimmung. Insbesondere durch das differenzierte Spiel von Ariane Labed wird die Odyssee der Protagonistin auch zu einer Suche nach sich selbst. Lucie Borleteau inszeniert das auf gelegentlich etwas zerdehnte Weise, aber mit viel Sinn für Atmosphäre. Und sie zeigt dabei einigen Gestaltungswillen: Die Nebelschwaden über den Wellen, der Dunst unter Deck und die ausgewaschenen Farben mit den vielen Blautönen passen gut zur trübseligen Stimmung, die Alice befällt.
Fazit: Fein beobachtetes und stark gespieltes Drama auf hoher See.