In Afghanistan erzählt man sich die Legende vom Stein der Geduld, dem man seine tiefsten Gedanken, Geheimnisse und Vergehen anvertrauen kann, bis dieser eines Tages zerspringt und einen vom Ballast der Vergangenheit befreiten Menschen zurücklässt. Der französisch-afghanische Autor und Regisseur Atiq Rahimi griff diese Erzählung in seinem 2008 mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Stein der Geduld“ auf und variiert die Allegorie nun in der Verfilmung seines Buches. In seinem beeindruckenden, kammerspielartigen Drama erzählt er vom Leid der Frauen in Afghanistan und auf diese Weise eine höchst ungewöhnliche Emanzipationsgeschichte.
Immer wieder sind in den Straßen einer Stadt in Afghanistan, die von einem Großteil der Bevölkerung bereits verlassen wurde, Schüsse zu vernehmen. Eine junge Frau (Golshifteh Farahani) harrt mit ihren zwei Töchtern an diesem unsicheren Ort aus. Während die Verwandtschaft schon längst geflohen ist, muss sie sich um ihren Ehemann (Hamid Djavadan) kümmern, der seit einer Schussverletzung im Koma liegt. Nach einem blutigen Überfall auf die noch verbliebenen Nachbarn bringt sie zumindest ihre Kinder bei einer Tante unter, doch sie selbst bleibt an der Seite ihres Mannes. Dabei beginnt sie langsam und mit beständig wachsendem Mut ihrem zum Zuhören verdammten Ehemann von ihren Erinnerungen zu berichten und ihm ihre Ängste und Sehnsüchte zu offenbaren. Der hartherzige Komapatient, der sie immer wie ein willenloses Besitzstück behandelt hat, wird zu ihrem Stein der Geduld, dem sie ihre traurige Lebensgeschichte anvertraut, während um die Wohnung herum der Krieg tobt.
Regisseur Atiq Rahimi („Erde und Asche“), der aufgrund des Bürgerkrieges 1984 aus Afghanistan floh, setzt sich seit dem Jahr 2000 mit Romanen und Filmen für die Rechte der Frauen in seinem Geburtsland ein. Mit der Verfilmung seines eigenen Romans „Der Stein der Geduld“ gelingt ihm ein zwar etwas plakatives, aber dennoch eindringlicheres Plädoyer für die Selbstbefreiung der unter mittelalterlich anmutenden, patriarchalischen Gesetzen leidenden weiblichen Bevölkerung.
Sonst zur stummen Dienerin ihres Mannes degradiert, kann die unterworfene junge Frau ihrem im Koma liegenden Ehemann nun erstmals all das sagen, was sie ihm im Wachzustand nie hätte anvertrauen können: Sie erzählt von der Härte ihres Lebens, von ihren Geheimnissen und Sünden. Sie klagt über die enttäuschten Erwartungen ihrer lieblosen Ehe, berichtet von unterdrückter Sexualität, über anschwellende Hassgefühle, über Krieg und Erniedrigungen. Die Protagonistin und ihre erschreckenden Schilderungen spiegeln beispielhaft das oftmals regelrecht entrechtete Dasein der Frauen in Afghanistan wieder. Stellvertretend für all die sprachlosen, Burka tragenden Frauen hat diese junge Muslima die Möglichkeit über ihr Leben und ihren Stellenwert in der Gesellschaft zu reflektieren, der sich einzig über ihren Ehemann oder die Tatsache, ob sie ihm Kinder geboren hat, definiert.
Wenn ihr viel älterer Gatte nicht mehr aus dem Koma aufwachen sollte, wird auch ihr Leben nichts mehr wert sein, da sie keinen Rückhalt in der Familie ihres Mannes erwarten kann. Also ist sie darauf angewiesen ihren Mann zu pflegen und ihn zu beschützen, schon um ihrer selbst Willen. Indem sie den stummen Körper als geduldigen Zuhörer, als ihren eigenen Stein der Geduld begreift, fängt sie an zu erkennen, dass auch sie eine Stimme hat, die sie gegen ihren Mann erheben kann. In subtil-radikaler Form findet sie dabei auf eindrückliche Weise zu sich selbst.
Das Spiel von Hauptdarstellerin Golshifteh Farahanis („Alles über Elly“, „Huhn mit Pflaumen“) ist in dieser Ohnmachtssituation, mit dem Rachegefühlen und dem sich langsam entwickelnden Selbstvertrauen so ausdrucksstark, so mitreißend, dass man sich ihren Monologen nicht entziehen kann. Es bedarf keiner Bebilderung all der Ungerechtigkeiten und der Schmach, der sie sich in der Vergangenheit ausgesetzt sah, um von ihrer Schilderung eines Lebens ergriffen zu werden, das beispielhaft für die Unterdrückung vieler Frauen in islamischen Staaten steht. In der Tradition von Scheherazade in Tausendundeiner Nacht weiß Golshifteh Farahani allein durch ihr Charisma und die Macht ihrer Worte zu fesseln und Anteilnahme für ihr Schicksal hervorzurufen.
Fazit: Regisseur Atiq Rahimi gelingt mit seinem Drama „Stein der Geduld“ ein erschütterndes Kammerspiel über die Ohnmacht und den Überlebenswillen der Frauen in fundamentalistischen islamischen Gesellschaften.